Die Tagträume ernähren sich von unseren Wünschen, die Schlafträume aber sind zumeist anarchisch absurde Montagen aus Bruchstücken unseres Gedächtnisses, auf die wir keinen steuernden Einfluss haben. In der Antike glaubte man deshalb, dass es sich bei Träumen um göttliche Orakel handeln muss, deren Botschaften nur zu deuten sind. Ulrich Breth hat in den Songtexten von Johnny Cash Träume, die sich aus der Bibel bedienen, ausgemacht.
Am 5. November 2002, vor zwanzig Jahren also, erschien das Album „American Recordings IV: The Man Comes Around“ von Johnny Cash mit dem epochalen gleichnamigen Song als Opening Track, der seinen Alterston definieren sollte. Zugleich enthält die Entstehungsgeschichte des Songs eine berührende Reminiszenz an die kürzlich verstorbene englische Königin, Elisabeth II.
Unter den amerikanischen Sängern und Songwritern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Johnny Cash wie kaum ein anderer das Selbstverständnis, und das heißt hier das Sendungsbewußtsein und die Zerrissenheit des land of the free and home of the brave geprägt. Er hat sich mit der walking contradiction, partly truth and partly fiction gemeint gefühlt, von der in Kris Kristoffersons The Pilgrim Chapter 33 die Rede ist. Dabei ist der Pilger für ihn ebensowenig eine Metapher wie der Wanderer in dem gleichnamigen Song, den ihm die irische Band U2 auf den Leib schrieb. Was sich hier zeigt, ist Cashs Fähigkeit, Fremdwahrnehmungen seiner Person mühelos in sein Selbstbild zu integrieren: Hello, I’m Johnny Cash.
Wenn man nach einer Erklärung dafür sucht, dass Cash als Man In Black zeitlebens gesellschaftliche Missstände angeprangert hat, ohne das System ernsthaft in Frage zu stellen, das solche Missstände produziert, dann wäre eine mögliche Antwort, dass dem die Auffassung von einem in der Welt waltenden göttlichen Ordnungsprinzip zugrundeliegt, das uns zwar dazu nötigt, unserem Nächsten beizustehen, aber nicht dazu, die Welt zu verändern.
Um sich in dieser Welt zurechzufinden, die in Cashs Leben oft
genug die Züge eines Labyrinths annahm, aus dem es schier kein Entkommen
zu geben schien und in dessen hintersten Ecken ihm fremde und eigene
Dämonen begegneten, gab es ein Navigationsmittel, das er in seiner
Autobiografie immer wieder in Stellung gebracht hat: den Hüter des
Schlafs, den Traum.
Der erste Traum
Allerdings ist davon auszugehen, dass Cash dem
Oneirokritikon des Artemidor nähersteht als Freuds
Traumdeutung, am divinatorischen Charakter der
Träume festhält, sie für Eingebungen höherer Mächte hält, die den
Träumenden Wege aufzeigen können. Diese Überzeugung sitzt so tief, dass
er nicht nur bereit ist, die Zeichen der Träume zu deuten, sondern auch
selbst das Zeichen zu sein, das anderen Menschen im Traum erscheint. Als
er eines Sonntagmorgens mit seiner Frau June die 57. Straße entlang
lief, entdeckten die beiden das eher unscheinbar wirkende Gebäude der
First Baptist Church of New York, in dessen Innerem sie bereits von der
Gemeinde erwartet wurden. Ein geistig behinderter jüdischer Junge, der
beschlossen hatte, zum Christentum zu konvertieren, nachdem er ein paar
von Cashs Gospel-Aufnahmen gehört hatte, hatte seine Eltern genötigt,
mit ihm genau diese Kirche an diesem Sonntag zu besuchen.
Johnny Cash ist zu mir in die Kirche gekommen! Ich habe euch
gesagt, dass er kommt!
Der zweite Traum
Cash merkt an dieser Stelle an, dass sein Vater erst zum
Christentum fand, nachdem sein zweitältester Sohn Jack im Alter von 14
Jahren in Folge eines Unfalls an der Kreissäge der landwirtschaftlichen
Werkstatt seiner High-School ums Leben kam. Auch wenn der Tod des
Bruders die Kindheit und Jugend von J.R., wie Johnny in der Familie
genannt wurde, überschattete, musste er doch nicht auf dessen Beistand
verzichten, da er regelmäßig in seinen Träumen erschien, in denen er
gemeinsam mit ihm alterte, da er stets zwei Jahre älter blieb als sein
jüngerer Bruder. Und nicht nur das: Er ist Prediger, genau wie
er sein wollte, ein guter Mann und eine hochangesehene
Persönlichkeit. Cashs Träume sind Ergänzungsleistungen, denen
eine religiöse Haltung zugrunde liegt, die sich vielleicht am
angemessensten mit der von Jürgen Habermas geprägten Formulierung als
ein Bewußtsein von etwas, das fehlt, beschreiben
läßt.
Der dritte Traum
Den Eindruck, dass etwas fehlt, hatte Cash auch, als er sich 1963
entschloss, den Song Ring of Fire, den seine
spätere Frau June gemeinsam mit Merle Kilgore geschrieben hatte, im
Studio aufzunehmen. In einem Traum hatte ich Anita Carter den
Song singen hören, von Trompetenklängen begleitet. Am
nächsten Morgen rief Cash den Produzenten Jack Clement an, der die
beiden Trompeter Karl Garvin und Bill McElhiney auftrieb und nach
Nashville kam, um die Aufnahmeleitung des Songs zu übernehmen. Die
Mariachi-Trompeten wurden zum Erkennungszeichen des Songs und
Ring of Fire neben I Walk the
Line zur Erkennungsmelodie Johnny Cashs überhaupt.
Wahrscheinlicher ist, dass Cash den Beitrag der beiden Trompeter zu Bob
Moores Instrumentalhit Mexico zwei Jahre zuvor
gehört hatte. Es ist durchaus plausibel, dass ein solches Hörerlebnis in
einem späteren Traum des Sängers wiederkehrt, aber erst die
Prägnanzverformung von der Reminiszenz an den Hit, der sich zehn Wochen
in den American Top 40 gehalten und am 27. Januar 1962 in Deutschland
gar Gerhard Wendlands Tanze mit mir in den Morgen
als Nummer 1-Hit abgelöst hatte, zum Traum, der dazu führt, dass sich
Cash gemeinsam mit Clement über den legendären Studioboss von Columbia
Records Don Law hinwegsetzt, verleiht dem Vorgang die relevante
Bedeutsamkeit.
Der vierte Traum
Auch der Song, der auf der B-Seite von Ring of Fire
erscheinen sollte, I’d Still Be There,
geht sowohl auf einen Traum zurück als auch auf das bereits
angesprochene Bewußtsein von etwas, das fehlt. Cash
hatte in einem Traum den Country-Sänger Webb Pierce den Song singen
hören, nach dem Aufwachen einen Teil der Lyrics notiert, ohne sich an
alles erinnern zu können. Sein in Techniken der Selbstsuggestion
versierter Freund und Kollege Johnny Horton versetzte ihn daraufhin in
Hypnose. Dann war ich wieder in dem Traum und hörte Webb die
Zeilen singen, die mir fehlten, schrieb alles nieder, so schnell ich
konnte, und hatte den Song.
Der fünfte Traum
Es ist deswegen nicht erstaunlich, dass bei einem der letzten Songs, die
Cash geschrieben hat, und der gewissermaßen sein künstlerisches
Vermächtnis darstellt, ebenfalls ein Traum eine entscheidende Rolle
gespielt hat. Die Einzelheiten hierzu hat er in den Liner Notes zu dem
Album American IV: The Man Comes Around (2002)
mitgeteilt.
Es ist das vierte einer Reihe von insgesamt sechs Alben von
Johnny Cash, die der Musikproduzent und Mitbegründer des Musik-Labels
Def Jam Recordings Rick Rubin seit 1994 auf seinem in American
Recordings umbenannten Label veröffentlicht hat. Rubin, der sich mit der
Produktion von Hip-Hop-Alben einen Namen machte, genießt inzwischen den
Ruf, ausübende Künstler jeder musikalischen Stilrichtung besser klingen
zu lassen als auf ihren vorherigen Platten. Dass sich die
Zusammenarbeit mit ihm für Cash als Glücksfall erweisen sollte, ist eine
harmlose Untertreibung.
Mit der nach seinem Label benannten Albumreihe hat Rubin Cash nicht nur
als stilbildendem Country-Sänger ein Denkmal gesetzt und ein völlig
neues Publikum erschlossen, sondern ihn erst zu dem
musician’s musician gemacht, als den er
sich schon immer gesehen hatte. Es spricht für Cash, dass er in seiner
Autobiografie durchblicken lässt, dass es nicht der Mann war, den er als
einen totalen Hippie beschreibt, der oben kahl
war, während ihm die Haare bis über die Schultern hingen und dessen Bart
so aussah, als hätte er noch nie eine Schere gesehen, der bei ihrer
ersten Begegnung nicht wußte, wen er vor sich hatte, sondern dass es
sich umgekehrt verhielt. Auf Cashs Frage, wie er die Sache in
Angriff nehmen wollte, soll Rubin geantwortet haben:
Ich werde gar nichts tun. Sie werden es tun. Sie werden mich
zu Hause besuchen, sich in mein Wohnzimmer setzen, eine Gitarre in die
Hand nehmen und anfangen zu singen.
In seiner Autobiografie erwähnt Cash beiläufig, dass er während der Zeit, die er sich für die US Army verpflichtet und die er zum überwiegenden Teil in Europa und dort hauptsächlich im bayerischen Landsberg verbracht hatte, 1953 in London Zeitzeuge der Krönung von Elizabeth II war. Möglicherweise beginnt hier die unterirdische Verbindung zu The Man Comes Around. In den Liner Notes schreibt Cash, dass keiner seiner Songs, die er geschrieben hat, soviel Zeit beanspruchte wie dieser, und er drei Dutzend Seiten Songlyrics geschrieben hatte, bis er seine endgültige Gestalt erhielt.
Den Ausgangspunkt des Songs aber bildete ein Traum, den er sieben Jahre zuvor hatte, als er sich Mitte der 1990er Jahre in Nottingham aufhielt und ein Buch mit dem Titel Dreaming of The Queen gekauft hatte, in dem von einer Vielzahl von Landesbewohnern die Rede war, denen ihre Königin im Traum erschienen war. Möglicherweise handelte es sich um den Titel Dreams about H. M. the Queen and Other Members of the Royal Family, den Brian Masters 1972 veröffentlicht und der die Pet Shop Boys zu ihrem Song Dreaming of the Queen (1993) inspiriert hatte, in dem neben der Queen übrigens auch Prinzessin Diana eine prominente Rolle spielt. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls träumte der Man In Black aufgrund der Langzeitwirkung seines Lektüreeindrucks, dass er zum Buckingham Palace ging, wo er die Königin, mit Handarbeiten beschäftigt, vorfand, die einen Korb mit Stoffen und Spitze bei sich hatte. Neben ihr saß eine weitere Frau, die beiden unterhielten sich und lachten. Als er eintrat, sah die Queen zu ihm auf und sagte: Johnny Cash! You’re like a thorn tree in a whirlwind.
Nachdem er aufwachte und sich des Traums erinnerte, kam Cash die Wendung vom Dornbusch im Wirbelsturm bekannt vor. Er schlug in der Bibel nach, meinte im Buch Hiob fündig geworden zu sein und ergänzte die Stelle durch Reflexionen über die johanneische Apokalypse. Im Song lautet die relevante Zeile dann The whirlwind is in the thorn tree. Der thorn tree in a whirlwind, als den Elisabeth II. Cash in dessen Traum identifizierte, liegt auf einer Ebene mit dem Bild der walking contradiction, die beide den Sänger selbst charakterisieren.
In seiner ursprünglichen Form mag das Bild die Idee zu dem Song angeregt haben, in seiner charakteristischen Umkehrung verwandelt es sich in eine ästhetische Nebenidee, während sich die Emphase des Songs auf den Anbruch der Endzeit verschiebt, der durch den Auftritt des umherstreifenden namenlosen Mannes angezeigt wird, der sich als Hinweis auf die übermenschlich-himmlische Gestalt des Menschensohns im Buch Daniel verstehen lässt, die in den Reden Jesu im Markusevangelium aufgegriffen wird: Dann wird der Menschensohn seine Engel aussenden, damit sie seine Auserwählten aus allen Himmelsrichtungen, soweit die Erde und soweit der Himmel reicht, einsammeln sollten. Bei Cash werden solche Verheißungen zum Sound, der bald an jeder Ecke der Welt zu vernehmen sein wird: Hear the trumpets, hear the pipers/ One hundred million angels singin’/ Multitudes are marchin’ to the big kettledrum.
Von seinem musikalischen Vermächtnis kann im Hinblick auf The Man Comes Around auch insofern gesprochen werden, als Cash den Song mit einem _spoken word_-Rahmen versehen hat, in dem nicht nur seine Vorliebe für apokalyptische Bilder zum Ausdruck kommt, sondern auch der Umstand, dass sein einst sonorer Bassbariton von den Folgen seiner Erkrankung am Shy-Drager-Syndrom, einer schweren Form von Parkinson, gezeichnet ist.
Besetzt sind die Instrumentalstimmen der religiösen Ballade mit den Musikern Randy Scruggs und Smokey Hormel an den Akustikgitarren sowie Benmont Tench am Klavier und der Orgel. Dabei ist es die in der Titelzeile im Bassregister des Klaviers ertönende Akkordfolge, die When The Man Comes Around seinen unverwechselbaren Klang und zugleich sein eschatologisches Pathos verleiht.
In der Rezeptionsgeschichte hat sich die Frage, wie die Botschaft des Songs zu verstehen sei, an zwei Lesarten eines einzige Wortes entzündet, nämlich ob es in der ersten Zeile der dritten Strophe Till armageddon no shalam, no shalom oder doch Till armageddon no salam, no shalom zu heißen hat, mithin ob dem hebräischen shalom der aramäische oder der arabische Friedensgruß vorangehen bzw. gegenüber gestellt werden soll. Während die aramäische Variante im Bannkreis der Heilsversprechen des jüdisch-christlichen Denkens verbleibt, wird in der arabischen Variante der ungelöste Nahostkonflikt als Symptom einer in den letzten Zügen liegenden Welt benannt. Aber anstatt eine nervöse Unruhe zu erzeugen, wird er in der folgenden Liedzeile Then the father hen will call his chickens home in die Folklore eines selbstgenügsam-patriarchalischen Landlebens katapultiert.
Das eschatologische Pathos des Songs, von dem eben die Rede war, lässt sich vielleicht am angemessensten dahingehend beschreiben, dass alles Menschenwerk unter dem Vorbehalt seiner Erlösungsbedürftigkeit steht. Es gehört zu den Stärken des Songs, dass er uneindeutig und in Verhüllungen spricht, zu seinen unübersehbaren Schwächen, dass er die Metaphorik der biblischen Sprache beim Wort nimmt und in einen dogmatischen Ton überführt, der obsolet wirkt, da er eben nicht – wie Benjamins Engel der Geschichte – im Eingedenken der Tradition der Unterdrückten der Vergangenheit zugekehrt ist, sondern seinen Hörern die bedingungslose Unterwerfung unter eine heteronome Ordnung zumutet.