Junge Frau und älterer Mann – ein vertrauter Konfliktstoff. Wer jünger ist, erwartet mehr Zukunft. Das schränkt die Möglichkeiten des Älteren schmerzlich ein. Jenny Erpenbeck hat Hoffnung und Verzweiflung einer solchen Beziehung in ihrem neuen Roman „Kairos“ neu ausformuliert. Und Marion Victor ist von dessen literarischer Qualität sehr angetan.
In ihrem neuen Roman schildert Jenny Erpenbeck eindringlich die Beziehung eines ungleichen Paares, einer jungen Frau, Katharina, und eines mehr als 30 Jahren älteren Mannes, Hans. Als sie sich kennenlernen, macht sie gerade eine Setzerlehre, er schreibt Romane, arbeitet als fester Freier für den Rundfunk.
Das erste Mal begegnen sie einander in einem Bus, steigen beide
an derselben Bushaltestelle aus, ihre Blicke begegnen sich, treffen
aufeinander, verhaken sich ineinander. Es scheint der richtige
Augenblick, sie packen ihn am Schopf und gehen erst einmal einen Kaffee
trinken. Was macht er und wer sind ihre Eltern? Es ist ein erstes
Abtasten. Bewegen sie sich in ganz unterschiedlichen Welten? Sie schaut
ihn an. Er sieht ein junges Mädchen, ihren glatten Körper, kann er sie
für sich gewinnen? Trotz der Unterschiede, die Alter, Erfahrung und
Lebenswelten mit sich bringen, beginnt eine Liebesgeschichte, die voller
Zauber steckt, in der Katharina sich von Hans verführen und führen
lässt. Dazu gehört das gemeinsame Erleben von Musik, das Sprechen über
Literatur und Kunst. Das Glück scheint greifbar zu sein. Denn seine Frau
hat ihn aus der Wohnung geschmissen, er ist in die winzige Wohnung
eines abwesenden Freundes gezogen. Ein halbes Jahr teilen Katharina und
Hans Bett und Alltag. Aber dann kehrt der Freund zurück, und sie müssen
die gemeinsame Wohnung, verlassen. Hans kehrt in die eheliche Wohnung
zurück. Katharina hat erfolgreich den Lehrgang Typographie beendet, ist
zwanzig geworden und nun kein Teenager mehr. Sie bezieht eine erste
eigene Bleibe, um kurz darauf für ein Praktikum am Theater nach
Frankfurt/Oder zu ziehen.
Je selbständiger Katharina wird, desto mehr schleichen sich Misstrauen
und Verrat, anfangs kaum wahrnehmbar, in ihre Beziehung ein. Obwohl
Frankfurt/Oder nur eine Zugstunde von Berlin entfernt ist, hat Hans das
Gefühl, sie nicht mehr kontrollieren zu können. Mit wem ist sie
zusammen, mit wem verbringt sie die Abende, wenn er nicht da ist?
Schweigen wird zu Lüge. Strafe und Gewalt verlassen ebenso wie Sehnsucht
nach Zärtlichkeit und Verständnis den Bereich der Phantasie. Eine
Perspektive kommt ihnen beiden abhanden. Mit einem Netz aus Strafe,
Schuld und Reue versucht Hans, seine Geliebte an sich zu binden. Seine
Gewalt verwandelt sich in ihre Schuld, ihre Reue in seine Verzweiflung.
Katharina kann sich ihm nicht entziehen, sie liebt ihn ja. Zu Beginn
hatte sie sich ein Kind von Hans gewünscht, nun träumt sie von ihrem
Tod. Allein die Gespräche über Kunst, über Gelingen und Scheitern, über
den Widerspruch, der zur Schönheit gehört, sind für Katharina noch
Inseln in einer zerbröckelnden Welt. Die Beschuldigungen, Geständnisse,
Wiederholungen, das restlose Aussprechen der Wahrheit führt, so nimmt es
Katharina wahr, zur Zerstörung.
Jenny Erpenbeck erzählt ebenso einfühlsam wie distanziert vor dem Hintergrund der letzten Jahre der DDR von einer Liebe, die trotz aller Unmöglichkeiten hoffnungsvoll und selbstverständlich beginnt. Dabei trägt der Wechsel des Blickwinkels, nämlich die Geschichte mal aus seiner, mal aus ihrer Sicht zu zeigen, dazu bei, dass es anfangs möglich scheint, die Gegensätze zu vereinen. Das Muster folgt dem Prinzip, das der Autor Hans bereits ganz zu Anfang der jungen Katharina erläutert: Man muss die Dinge zusammendenken. Und so schneidet die Autorin Jenny Erpenbeck nicht nur die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Protagonisten dicht aneinander und lässt sie ineinanderfließen, sie überblendet Zeiträume und Erinnerungen. Es entsteht ein dichtes Gewebe, das den Leser gefangen hält. Jahre nach der Trennung – und das ist der Beginn ihres Romans – stirbt er an ihrem Geburtstag.