Der deutsch-französischer Jurist, Philosoph, Politiker, Publizist und Talkmaster Michel Friedman gehört zu den prominenten Intellektuellen im Lande. Der Rechtsanwalt, der einer polnisch-jüdischen Familie entstammt, hat sich vor allem als Fernsehmoderator bekannt gemacht. In seinem jüngsten Buch ist er und die Geschichte seiner Familie das Thema. Walter H. Krämer hat es gelesen.
Nimmt man das Buch FREMD von Michel Friedman zur Hand – SPIEGEL Bestseller nach mehr als 100.000 verkauften Exemplaren – so ist dort von Oliver Reese, Regisseur und derzeit Intendant am Berliner Ensemble, zu lesen: „Dieser Text ist das Persönlichste, Schmerzhafteste, was Friedman je geschrieben hat.“ So kann ich das zwar nicht bestätigen, aber dass dieser Text sehr persönlich schmerzhafte Erinnerungen des Autors teilt, das ist bei der Lektüre von Beginn an zu spüren. Es ist ein Buch über das innere und äußere Fremdsein, das den Autor in seinem Leben begleitet.
Ein Kind, voller Furcht, kommt nach Deutschland – ins Land der
Mörder, die die Familien seiner Eltern ausgelöscht haben. Hier soll es
Wurzeln schlagen, ein Leben aufbauen.
Das Kind staatenloser Eltern tut, was es kann. Es will Kind sein. Es
will träumen. Es will leben. Doch was es auch erlebt, sind Judenhass,
Rassismus und Ausgrenzung – und eine traumatisierte Kleinfamilie, die es
mit Angst und Fürsorge zu ersticken droht.
Der Text ist offensichtlich und nachvollziehbar das Ergebnis aller
bisher gemachten Lebenserfahrungen des Autors. Denn das im Buch immer
wieder genannte Kind ist Michel Friedman selbst und beschreibt dessen
Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung durch die
Mehrheitsgesellschaft.
Das Buch erzählt von der Einwanderung nach Deutschland aus Paris, wo
Michel Friedman und seine Familie nach der Shoah als staatenlose
Flüchtlinge aus Polen lebten. Und es erzählt, wie er sich in letzter
Sekunde gegen die Ausreise in die USA entschied, um doch in Deutschland zu
bleiben. Und was die Hintergründe dafür waren.
Offen und sehr direkt berichtet der Autor über Erfahrungen von Schwäche
und mit Mobbing, über Selbstverletzungen und über Therapien.
Und immer wieder auch über einen Unfall im Haus. Beim Spielen in der
Wohnung kommt er einem Topf kochenden Wasser zu nahe, und der ganze
Inhalt schüttet sich über seinem Körper aus. Verbrennungen, die ihn
wochenlang ans Krankenbett fesseln, sind die Folgen. Und die Frage nach
der Schuld.
Ein besonderes Merkmal dieses Buches ist die Form und die
kunstvoll verdichtete Sprache, die der Autor für sein Erzählen gefunden
hat. Die 176 Seiten des Buches haben eher die Anmutung eines langen
Gedichtes als die einer Erzählung.
Diese eher ungewöhnliche Form erleichtert es dem Autor, all das zu
sagen, was ihn bewegt und was er erzählen will: über seine Kindheit und
Jugend im Deutschland der Nachkriegszeit, eine Kindheit als emigrierter
Jude, als Sohn Überlebender, als ewig Ausgeschlossener. Und er findet
immer neue Tonarten: mal poetisch, mal zynisch. Dann wieder wehmütig
oder doch messerscharf und glasklar. Auch Denksprüche und Witze sind in
dem langen Fluss der poetischen Erzählung enthalten. „Die lyrische Form
war ursprünglich nicht geplant. Mit der Zeit aber wurde der Text immer
nackter, knochiger. Nach der Fertigstellung war ich erschrocken und
erschöpft. Für mich ist das Buch ein Spiegel. Ich schaue mich
an.“
Dies ist ein Buch über das
Fremdsein.
Das Fremde – das äußere und das innere.
Wer wie ich bis zum achtzehnten Lebensjahr mit einem
Staatenlosen-Pass lebte,
wer wie ich Eltern hatte, die aus Polen stammten und die Shoah
überlebt haben, in Paris aufgewachsen ist und als jüdisches Kind nach
Deutschland kam, lebt im Nirgendwo. Ist heimatlos.
Eine Erfahrung, die exemplarisch für viele Menschenschicksale
sein könnte.
So ist dieses Buch allen Menschen gewidmet, die irgendwo im
Nirgendwo leben.
Ich bin auf einem Friedhof geboren.
Schmerz,
der keinen Anfang kennt,
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Manchmal versteckt er sich.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.
Ich war ihr Lächeln.
Lächelnde Traurigkeit.
Wie bringe ich euch zum Lächeln?
Wie bringe ich euch zum Lachen?
Wie bringe ich euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.
In der Regel:
gescheitert.
Ein Kind sollte das nicht sollen,
sollte das nicht müssen,
sollte das nicht wollen.
Sollte von seinen Eltern
zum Glück getragen werden.
Ging nicht,
Pech gehabt.
Wie so viele,
deren Elternwelt gerissen,
zerrissen,
gestört,
verstört,
zerstört ist.
Verfolgte,
Geflüchtete,
Arme,
Kranke,
die ihre Kinder vergessen,
die ihre Kinder zum Überleben brauchen,
die vergessen,
dass Kinder noch nicht wissen können,
dass die Traurigkeit eines Lebens
eine Ewigkeit andauern kann.
Weg von hier.
Aber wohin?
Wohin nur?
Wohin?
Der Text ist wortgewaltig, berührt unmittelbar emotional in seiner Verbindung von Poesie und genauer Beschreibung der Wirklichkeit und eröffnet Räume für eigene Gedanken und Gefühle.
Es ist ein mutiges Buch, das tiefe Einblicke in Michel Friedmans eigene Geschichte und die seiner Familie gewährt. „Und da gerade das Persönlichste in der Kunst oft von allgemeiner, gesellschaftlicher Bedeutung sein kann, bin ich mir sicher, dass viele Leserinnen und Leser von Fremd sehr berührt sein werden.“ Oliver Reese. Insofern ist das Buch auch ein sehr politisches Buch, dessen Lektüre unseren Blick auf heutige gesellschaftliche Zustände schärft und uns ermutigt, nicht wegzuschauen und zu handeln.
Als Inszenierte Lesung mit Sibel Kekilli am Berliner Ensemble in der Regie von Max Lindemann. Für die 1980 geborene Schauspielerin Sibel Kekilli, die seit Fatih Akins „Gegen die Wand“ (2004) zu den bekanntesten deutschen Filmdarstellerinnen gehört und zweimal mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, ist es die erste Theaterarbeit ihrer Karriere.
Am Schauspiel Hannover fand am 1. Dezember 2023 die
Uraufführung der von Stephan Kimmig inszenierten Theateradaption von
Fremd statt, es spielen Christine Grant, Stella
Hilb, Max Landgrebe und Alban Mondschein. „Berührend und poetisch
verleiht Michel Friedman den Gedemütigten und Ausgegrenzten eine
Stimme“, heißt es in der Ankündigung des Schauspiels Hannover.
Im Frühjahr 2024 wird Fremd in einer Inszenierung
von Lena Brasch am Maxim Gorki Theater aufgeführt werden.
https://www.piper.de/blog/termine/fremd-von-michel- friedman-kommt-ins-theater
https:// www.youtube.com/watch?v=BChhjb7N958
Michel Friedmans Bestseller „Fremd“ auf dem Theater