Aus sechs zweibeinigen Hunden soll ihr Unterleib bestanden haben, und ein gewisses Problem bestand darin, dass Skylla sechs Besatzungsmitglieder vom Schiff des Odysseus verspeist haben soll, während er der ebenfalls gefräßigen Charybdis auswich. Hier, am Ort des Geschehens, auf der engen Straße von Messina, ist das Zentrum des großen epischen Romans „Horcynus Orca“ von Stefano D’Arrigo. Alban Nikolai Herbst ist mit dem Buch in einen Leserausch geraten.
Was ist an einem Buche gelegen, das uns
nicht einmal über alle Bücher hinaushebt?
Nietzsche
Stellen Sie sich etwa 13 km oberhalb Messinas ein Fischerdorf
im Kriegsjahr 1943 vor, fast genau dort, wo Charybdis mit, gegenüber,
der kalabrischen Skylla — die gefürchteten Meerungeheuer Homers — seit
je die Seefahrt bedrohte. „Unberührt“, wie man sagt, ist der Flecken
allerdings nicht, auch in ihn hat sich der Krieg eingewetzt. Seit der
alliierten Besetzung Siziliens ist die Ausfahrt über die Meerenge strikt
verboten, weshalb die von Stefano d’Arrigo so genannten „Pellisquadre“
schwersten Hunger leiden, zumal so gut wie alle jungen Männer zum
Kriegsdienst ausgehoben worden sind und, sofern nicht gefallen, invalide
oder sonstwie geschädigt zurückkehren werden. Andrea Cambrìa aber,
sizilisch `Ndria, kommt unversehrt heim. Ist er, wie sein Vater einst,
desertiert? – dessen Sehnsucht nach seiner jüngst angetrauten Acitana
derart groß war, daß er mit Tabak versetztes Wasser trank und aus dem
Lazarett als unheilbar vergiftet entlassen wurde. Doch endlich daheim,
ist sie verstorben. – `Ndria hat nichts dergleichen getrunken, steht
draußen dennoch vor der Tür; Caitanello faßt es so wenig, daß er den
Sohn beinah abweist. Der seinerseits zurückschreckt: Was bereitet der
Vater da zu?! Den Essig in der Nase, in dem das Zeug gekocht wird, sieht
`Ndria es fassungslos an. Und soll dann auch noch kosten!
Von Haus aus eh Akrostichon, wird Essig zur Metapher.
Doch `Ndria wird ihn los:
Alt ist er geworden (…), mein Don Caitanello (…) , alt, wiederholte
er vor sich hin, und beim Wiederholen war es ihm, dass auch seine Jahre
irgendwie im Verhältnis zu den Jahren seines Vaters zunahmen (…) und
sich denen an(näherten), in denen sein Vater zu seinem Vater wurde. Auch
das empfand er zum ersten Mal, und es war auch das erste Mal,
(…) bei dem die Zeit, die er im Krieg verbracht hatte, (…) ihm
plötzlich auf die Schultern sank wie eine so schwer zu tragende Last,
dass er spürte, wie seine Knie nachgaben. Ebendas läßt ihn, `Ndria,
sich wieder auch in die Dorfgemeinschaft, modern
ausgedrückt, integrieren. Es ersteht ihm sogar eine
Liebe: Ohne auch nur einmal die Augen von ihm abzuwenden, ließ
Marosa völlig stumm ihren Gefühlen freien Lauf, stützte dabei ihren Arm
mit dem anderen ab und quälte mit den Zähnen ihre Lippen, die heftig
bebten. Mit ihren Augen streifte sie immer wieder über seine Gestalt,
und ihm war, als würde er gewissermaßen die Berührung spüren, die
Schwere dieses Blicks, der seine Augen erkundete, ( …) die
Stirn, die Schläfen (…).
Eine Art Zufall spielt ihm den Job eines Ruderers zu. Unerachtet
der zerbombten Stadt hat es sich Messinas (…) „Town Major“ in den Kopf
gesetzt, eine Regatta aller im Hafen liegenden Truppen zu veranstalten
und schickt nun einen Malteser aus, nach durchtrainierten Burschen auch
für Sizilien zu suchen. Mitten im Krieg eine Regatta? Eine Regatta
nicht nur mitten im Krieg, sondern auch noch mitten im
Hafen, (…) der prall wie ein Ei mit Kriegsschiffen der
englischen und amerikanischen Flotten angehäuft war (…). Doch
wo noch solche Kerle finden, dreizehn junge Männer (…), die nicht
im Krieg (…) den Tod gefunden hatten, die keine Gefangenen,
keine Verschollenen und keine Versprengten waren? – In einer
Kutsche klappert er die Küste hoch ab. „Ihr Frauen, habt ihr Männer
im Haus? Junge Männer, Burschen, die sich fünfhundert Lire mit vier
Ruderschlägen verdienen wollen?“ Und stößt auf `Ndria. Um die zwölf
andern soll der sich jetzt kümmern. Fünfhundert Lire, fünfhundert
Lire.
Endlich ist die Mannschaft beisammen. Jetzt aber schnell! Trainieren!
„Alle an die Riemen!“ Eintauchen und Heben, alle genau im selben
Augenblick, keinen Tropfen früher und keinen Tropfen später. So
rudern sie zwischen den Schiffen hinaus und draußen um den
Flugzeugträger rum, von dessen Heck … plötzlich … ein Schuß! … Da hat
ihn, `Ndria, der Krieg mit einer Kugel jetzt doch noch
erwischt, die zwischen seinen Augen mit einer Wucht
einschlug,
– daß sie bei mir die Wirkung verfehlte. Sie kam mir als Ende dieses
1454seitigen Buches einfach nur abrupt vor, das fast jede andere Szene
sonst mehrfach codiert, kunstvoll variiert hatte: Wollte der Autor seine
fast zwanzig Jahre währende Arbeit derart unbedingt hinter sich
lassen?
Jedenfalls läßt sich der „Plot“ dieses Kolosses ziemlich schnell
erzählen. Da ich’s nun tat, hab ich nicht mal „gespoilert“ – ist er doch
lediglich der Anlaß dieses Romanes aus der Menschheitsküche,
eines, wie es in Deutschland lang keinen gab. Denn das ist fast zuerst
zu sagen, dass der „Horcynus Orca“ in Moshe Kahns, seines
Übersetzers, zum Hinknien wendigem Deutsch ein ebensolches Kunstwerk wie
das Original ist – womöglich auch, weil das Sizilianische ganz wie das
Deutsche das Satzprädikat hintanstellt, anders als das Italienische, und
sich zwischen ihm und dem Subjekt, schreibt im Nachwort Kahn, „wahre
syntaktische Abenteuer abspielen“ können. In die hat er sich
mitgestürzt. Meine Rezension ist deshalb eine Besprechung fast mehr
seines Buches als eine über d’Arrigos.
Vergleichen wir nur Era l’Orca, quella che dà morte, mentre lei
passa per immortale: lei, la Morte marina, sarebbe a dire la Morte, in
una parola mit „Es war die Orca, die Todbringerin, die selbst aber
als unsterblich gilt”: sie, die Tödin der Meere, oder, mit einem Wort,
die Tödin schlechthin.“
Im Italienischen ist das Wort für den Orka ebenso weiblich wie das für
den Tod. „Tödin“ und „die Orca“ sind also keine Manierismen,
sondern insofern auch sinnhaft Übertragung, als im Italienischen
weiblich sogar der den Roman grundierende Krieg ist, „la guerra“. Wie
überhaupt die entscheidenden Momente des Buches von
Frauen, Feminotinnen, bestimmt sind, die man auch Sirene
nennen konnte, ohne Gewissensbisse zu bekommen, und daß, wenn man sie
als Metapher verstand, (…) auch ein Fundament von Wahrheit
sichtbar wurde. Dazu Kahns eigene Findungen: „Weltenendchaorioles“
(finimondorioles), „sich verschwähern“ (s’incommarare), “hurenschlägig“
(sdiregnatrice). Ebenso “mannswesisch“ (sperta di masculazzo) und
“Völlervögel“ (scassati di pancia) sowie „entflukt“ für „scodato“ oder
das entzückend „hundepimmelige Thema“ (sogetto a cazzodicane). Besonders
schön auch „erohräugen“ für d’Arrigos oreocchiare. Era
l’Orca, quella che dà morte, mentre lei passa per immortale: lei, la
Morte marina, sarebbe a dire la Morte, in una parola. Als deutsche
Wörter sind es neue für sich, die uns wunderbar bereichern, abgesehen
davon, dass sarebbe a dire in „schlechthin“ zu kondensieren, herrlich
elegant ist.
Und eigentlich wird andres erzählt, – geradezu leitmotivisch etwa von
den „Feren“, wie die Fischer die ihnen verhaßten Delphine nennen.
Grausame Rivalen um den basalsten Lebenserhalt, zerreißen sie ihnen die
ausgeworfenen Netze, das dauernde Lächeln ihrer Schnäbel und ihr
ständiges Gekicher wird als hämisch erlebt: … seht Ihr, dieser
Dreck von Fleisch, das ist eine Fere, (…) eine Fischbestie,
mit Verlaub gesagt, (…) launisch, schädlich und ekelhaft (…).
Doch die Delphine gehn dem Orka nur voran, der Orca, siehe
oben „la guerra“. Der Killerwal selbst taucht erst auf Seite 834 auf,
bemächtigt sich der Handlung aber dann – wie Naturkatastrophen in
ihren unterirdischen Ursprüngen, wenn man noch kein Zeichen von ihnen
wahrnimmt, sie aber längst schon unter unseren Füßen sind. Auch den
Krieg nehmen die Pellisquadre so wahr. Es gehört zur Größe dieses
Romans, dass er durchweg ihre Sicht übernimmt. Auf Sizilien bleibt die
Zeit dabei stehn; was längst vergangen, wirkt subkutan weiter. Noch
lange wurde für die Anrede Lei das längst
antiquierte Voi, also „Euch“, dort verwendet; ich hab es selbst
noch gehört. (Als ich 1986 in Enna monierte, der Aufzug funktioniere
nicht, erwiderte der ergraute Alberghiero: „Jè a guìerra“, so seit halt
der Krieg) Auch daher rührt die zugleich mythische Struktur des
über weite Strecken am Neorealismo geschulten Buchs: Er hatte das
Eisen aus dem Fleischstück gezogen und (…) gleich
wieder (…) zurückgesteckt, um das Blut einzudämmen, das daraus
hervorquoll. Dann hatte er die drei Zacken in aller Eile mit der Spitze
des Schlachtermessers wie einen Knochen gereinigt (…). Dabei kann
den Vergleichen eine durchaus phantastische Aura entströmen: lange
Schenkel und Stelzvogelbeine mit breiten, schwarzen, staubigen Sohlen
unter ihren stets nackten Füßen, (…) beseelt vom Mark der
Rotangpalme, das ihnen diese Bewegung eines zitternden Stamms
verleiht (…). Häufig sind sie noch im fast selben Atemzug … –
ja, seelenkundig: Zuerst blieb sie mit offenem Mund da stehen, wie
verkindischt, (…) sah dann unbeirrt starr in seine Augen mit ihren
Augen, die, wenn man sagte, dass diese Augen immer mehr die Augen einer
Verkindischten wären, für ‘Ndria das Gleiche war, als würde man sagen,
dass er sie in diesem Augenblick sah, wie sie ihn mit den Augen von
früher ansah, (…) als (…) man die
Mädchen (…) von den Jungen alleine dadurch unterscheiden
konnte, dass ein Mädchen nicht gegen die Wand pinkelte (…), sondern
auf die Erde und sich dafür auf die Fersen hockte (…). –
Dieser uterine Ton (tono femminino, uterino) durchzieht das
ganze Buch.
Dabei werden die meist liebevoll gezeichneten Charaktere zuweilen
allegorisch, insbesondere wieder die Frauen, deren erotische Wirkung auf
Männer eine bezeichnende Verbindung zu den Feren
schafft: Feminotinnen und Feren behandelten sich ihrem Charakter
nach in allem gegenseitig, wie sie es verdienten, und vielleicht war ja
auch etwas Wahres an dem, was Don Mimì Nastasi behauptete, nämlich dass
sie (…) alle beide in schrittweiser Folge von den Sirenen
abstammten. Womit eine ganz andere Erzählung über die
„Teufelsbestien“ (diavolone) angeschlagen ist. Denn so, wie es
den Ferhunger gibt („la ferame“), den Hunger als
Fere (der die Pallesquadre deren widerwärtiges Fleisch essen läßt),
umgibt sie auch ein Geheimnis, die jene große, streng
persönliche Sache ganz allein mit sich ausmacht und zu ihrem verborgenen
Friedhof zieht, um dort einen vorzeitigen Tod zu sterben aus
vermeintlicher Scham und Würde sich selbst und anderen
gegenüber (…). – Ebenso enteinzeln sich bisweilen die
Fischer, wie wenn sich einer im anderen spiegeln würde, was ihnen
den Anschein eines (…) Menschen gab, (…) der aus den
Stücken der Gestalt aller (…) gebildet war. Und wenn die
„tausendundeinnächtige“ (milunanotte) Ciccina Circé den zurückgekehrten
`Ndria von Skylla nach Charybdis (da scill’ a cariddi) übersetzt, ist
ihr Boot in Wahrheit eine Bahre, deren Charon also ebenfalls weiblich
und die Meerenge Styx. Was wir erst Hunderte Seiten später begreifen und
deshalb noch im Kopf haben mußten; nur dann verstehn wir Witz und
Tragik, vor allem aber die Seele dieser Prosa, als würde er nach
innen sprechen, mit verfangener Zunge („con la lingua
imbrogliata“). Ihr enormer Reichtum läßt sich nur so zum Leuchten
bringen – durch das, was eben nicht „Plot“ ist, sondern ein
Zustand, legt dies Erzählmeer uns nahe, in einer Stille ohne
Schaum. Wenn wir in einer S-Bahn auf die nächste Station achten
müssen, vernähmen wir sie nicht, geschweige zu merken, wie „uralthervor“
wir mit einem Mal in der Ilias sind: Verkleide dich als Frau, hab
ich dir gesagt. Du musst dir nur die vier Härchen über der Lippe
abrasieren (…), und solange Krieg herrscht, mischst du dich unter
uns Frauenvolk (…). Ciccina Circé ist zu Thetis geworden, der
antiken Meeresnymphe, und `Ndria momentlang Achill. So sagen die Fischer
denn auch, wenn sie „etwas im Kopf behalten“ meinen, „in mentedei“ (im
Geiste Gottes).
Der realistische Kritiker freilich ruft aus: „So sprechen einfache Leute
nicht!“ Bloß dass es, selbst hätte er recht, vorbeiging’ an Charakter
und Mär dieser Dichtung und allem, was uns hoffen läßt: D’Arrigos
„einfache“ Menschen sind nicht einfach und schon gar nicht stumpf,
niemals, mag ihr Schicksal sie noch so beuteln. Egal, in welcher Be-,
ja Gedrücktheit sie leben, ganz wie die sterbenden Feren behalten
auch sie sich Würde und Stolz. Von Klassenstolz ließe sich
sprechen, doch ist’s „nur“ der ihres Fischerstands und sowieso zutiefst
sizilianisch. Ins Schicksal ergeben sind sie allenfalls als
Alte, denen die mit ergreifendsten Passagen gewidmet sind – jenen
„Ohmahnen“ (nonnavi), die hinaus auf See nicht mehr können und morgens
am Strand auf ihren verwitternden Stühlen sitzen, teils, weil klapprig
wie die, hinausgeleitet werden mußten und schauen nun schweigend aufs
Meer. Doch selbst sie sind nicht Opfer, sondern lehnen sich auf,
jedenfalls manche, wie Caitanello, wenn er, dieser völlig
Verrückte, diese Demütigung nicht mehr ertragen konnte, blindlings mit
dieser Nußschale von Borietta hinausfuhr, aufs Meer, inmitten all dieser
unendlichen Mengen von Feren, selbst wenn es ihn das Leben kostete,
sofern es nur das eines Löwen war. Deshalb will ich auf keinen Fall
von der großartigen Erzählung schweigen, die einen anderen Greis
beschließen läßt, heimlich noch einmal in See zu stechen
– endgültig im Wortsinn. Ferdinando Currò war allerdings
nicht alleine verschwunden. Sebastiano Schirò, Vito Imbesi und Cono
Ritàno (…) waren ebenfalls nicht mehr da, auch ihre Stühle
waren ohne sie im Morgendämmer sichtbar geworden. Zugleich mit ihrem
Verschwinden bemerkte man auch das Verschwinden der
Borietta (…). Doch wer hatte gerudert? Wer hatte das
Ruder bedient? Und dann musste die Mannschaft dieser Ohmahnen weit auf
die Ferne zugehalten haben, sehr weit auf die Ferne, zu dem Meer, wo man
keine Fische fischt, und dies war der am wenigsten lösbare Teil des
Rätsels.
Geschichten um Geschichten wölben sich aus d’Arrigos Geschichte
heraus. Meisterhaft dialogisch das ewiglange Palaver, als der Kadaver
des Orkas endlich auf den Strand gehievt ist. Was sollen die
Pellisquadre, dürfen sie mit ihm tun, wollen sie nicht ihre
Ehre verlieren? Es ist dies schon deshalb eine der eindrücklichsten
Passagen des Romans, weil sich der Sprecher und Ratgeber des Dorfes, der
fast schon greise, doch nobel weise Don Luigi Orioles im Wortgefecht
laufend verändert; zu `Ndrias Entsetzen, der ihn seit Kindheit verehrt,
wirkt er unversehens dement, dann wieder völlig bei sich – ein auf dem
gleichsam Basso continuo der Gedanken `Ndrias unentwegtes Vexierbild, in
das obendrein die anderen Pellisquadre hineindisputieren.
Welch ein poetisch vollkommenes Handwerk! Wenn auf Seite 1388 steht, die
Pellisquadre hätten wie Zwerge gewirkt, die das Meer mit der Hand
ausschöpfen, haben es hier zwei Riesen mit der Sprache getan – Moshe
Kahn wie d’Arrigo. Eben nicht `Ndria, sondern sie ist der Held
des Romans, seine Heldin. Dies macht das Buch unverfilmbar – ein
Kennzeichen jeglicher Dichtung. Auch deshalb wird keine Rücksicht auf
woke „Correctness“ genommen: Das Buch ist nicht nur oft grausam –
notwendigerweise, schließlich herrscht Krieg –, sondern bisweilen
ausgesprochen brutal, extrem beim Ferenkampf gegen die Orka, deren
Blas indes ein männlicher ist: … was die Form und die Dimensionen
angeht, würde der wirklich wie angegossen als Schwanz, ja
Riesenschwanz (…) passen. Die Gruppe um Don Luigi wähnt
in dem „Tiergiganten“ (l’animalone) eh den toxischen Mann; toxisch ist
die Frau, „la guerra“, eben aber auch. So ihr Sexuelles, fünf Jungens
sind die Beute: Tatsächlich sah sie sie an, und dabei leckte
sie sich mit ihrer kleinen Zunge die Lippen, als würde sie bereits deren
Krümel aufsammeln (…), dann öffnete sie ihren Morgenmantel,
nahm eines ihrer kleinen, spitzen Ziegenbrüstchen in die Hand, führte
ihren Mund dicht heran und (…) wölbte ihre Lippen
vor (…). Oder Ciccina Circé: „Haltet mich, drückt mich,
zerreißt mich ganz …“, flüsterte sie mit ihrem Atem zwischen den
Zähnen. – In gewissem Sinn ist dieses Buch barbarisch. Die Menschen
sind vom Krieg in eine Art Naturzustand zurückgestürzt
worden.
Dennoch gibt es witzige Partien, etwa wenn es sich eine junge Feminotin,
an der kalabrischen Küste noch, angewöhnt hat, sich in den Hohlraum
eines von einer gestürzten Statue abgebrochenen Kopfs Mussolinis zu
erleichtern, den sie als Pisspott mit sich herumträgt, so dass wir –
anders als bei Hitler, diesem, wie D’Annunzio ihn nannte,
„Flachpinsel-Attila“ – unvermittelt begreifen, wie groß seine,
Mussolinis, auch erotische Anziehung gerade auf Frauen gewesen sein muß.
Bis das Entsetzen des Krieges über sie hereinbrach.
Zart sind hingegen die beiden großen Menschenlieben des Buches,
Acitanas, der Mutter `Ndrias, zu seinem Vater und dessen nun schon
jahrzehntlang posthume zu ihr. Sie starb doch so früh; die Fahnenflucht
derart vergeblich … Nun wird ihre Liebe als ein Märchen aus
TausendundeinerNacht erzählt; auch schon auf Ciccina Circé hat ja
Scheherazade ihr Mondlicht geworfen. Wiederum in der Liebe des Sohns zu
Marosa stirbt er nun, `Ndria, zu früh. Gut möglich, dass
fortan sie sie weiterträumen wird, lunar. – Ach, wie sie sich
begegneten! ‘Ndria sah sie so blass, dass er (…) eine
Woge von Zärtlichkeit in sich aufkommen fühlte, und zum ersten Mal, ganz
impulsiv, wollte er sie küssen. Marosa bemerkte das, und so wie das
Blut aus ihrem Gesicht gewichen war, kehrte es plötzlich wieder zurück,
das junge Mädchen wurde purpurn (…). Und um sie küssen zu können,
bückte er sich nicht, sondern hob sie in seinen Armen
empor. – Fünfhundert Lire, fünfhundert Lire …
Romanästhetisch eine der beeindruckendsten Erzählungen ist freilich die
von der Hand. Sie beginnt nach einer unverantwortlichen Hinausfahrt
Caitanellos, dem ahab’schen Selbstmordversuch in Form einer tollkühnen
Heldentat, wenn sie ihm niemand im Dorf mehr reichen will. Und endet in
der Stadt Partenopes mit den letzten Minuten eines jungen deutschen
Panzerführers, der an die Truppe den Anschluß verlor. Nun klettert er
nach draußen und geht zögernd auf die napoletanischen Jünglinge
zu, die ihn mit Maschinengewehren, Karabinern und Handgranaten
bewaffnet eingekreist hatten – wobei er lächelt, als wäre er
Freund. Und streckt ihnen die Hand entgegen, doch nicht mit der
offen liegenden Handfläche, sondern hochkant aufgestellt,
ausgerichtet wie eine Pistole, wobei die vier eng zusammengepressten
Finger den Lauf und der aufgerichtete Daumen den Abzug in
Schussbereitschaft bildeten. Vor seinen Tod schiebt d’Arrigo aber
noch „ein kleines Frollein“ ein, das die Szene beobachtet, so dass wir
sie zugleich – wie ihr blinder Vater, den sie führt – mit ihren Augen
erleben. Ihr Antlitz indes, erschreckenderweise, wird zu dem der Unheil
selbst, es war wie ein zweites Gesicht für die Jungs, wie das, was
sie sich zu Karneval mit Ruß auf ihre eigenen Gesichter malen, ganz
Zähne, Augenhöhlen und Schnauzenfraß, und sie malen es sich aus dem
Gedächtnis auf, als hätten sie sie immer schon gekannt und gesehen, die
Schnauzenzerfressene, als wüßten sie, dass es, um das Leben vollkommen
zu kamuflieren, nur sein Gegenteil gibt, die Tödin.
Als 2015 Moshe Kahns dezent so genannte „Übersetzung“ erschien, die
erste überhaupt (eine zweite, auf Französisch, kam erst in diesem
Jahr heraus), jubelten die Feuilletons; Beckmesser freilich mäkelten
auch. Das war aber schon 1976, in Italien, d’Arrigos Original passiert.
Im allgemeinen wußte man dort wie hier ziemlich sofort, um welch eine
Art von Werk es sich handelt. Eines der Wenigsten ist es und wie diese,
trotz der Kriegs- und Rahmenhandlung, außer jeder Zeit. Und dennoch:
Nachdem ein Leser es mir zugeschickt hatte, als eBook, weil ich es lesen
solle, nein müsse, und während ich es schon tat, durchstreifte ich die
Buchhandlungen; nicht eine führte das Buch. Ich wurde regelrecht sauer.
Denn wer immer den wahrhaften Leserausch will, kommt an diesem Roman
nicht vorbei. Haben wir uns auf ihn eingelassen, hebt’s uns über alle
Bücher hinaus.
[Geschrieben für die Weihnachtsausgabe
der Jungen Welt und am 23. Dezember
2023
dort erschienen. Hier jetzt, nach
meinem
radikalen Bruch mit ihr, in der originalen
Ty-
poskriptfassung.] Es ist mir heute
widerlich,
daß der Beitrag in ihren Zusammenhängen
steht
— spätestens seit dem Aufmacher der
Titelseite.
Eine schlimmere Diktatorenpropaganda als diese
ist
kaum denkbar. Weshalb ich mich bei Moshe
Kahn
und dem S. Fischer Verlag hiermit
entschuldige,
dieses große Buch in solch eine Nähe gerückt
zu
haben.
ANH, 23. Januar
2024]