Wer seine Zukunft kennt, verliert seine Lebensperspektive. Dennoch lesen viele Menschen in ihren Horoskopen oder gehen zu Wahrsagerinnen. Der aserbaidschanische Schriftsteller Vougar Aslanov, der seit 1998 in Deutschland lebt, erzählt in seinem Roman „Russisches Gesetz“ von dem sächsischstämmigen Paul Burkhard Pestel, der mit einem Verfassungsentwurf europäische Aufklärung nach Russland brachte, und von dem Dichter Kondrati Rylejew, der in unserem Romanauszug den Schritt in seine Zukunft wagt.
Kondrati Rylejew war vor allem ein Dichter. Obwohl er das manchmal anders formulierte: „Ich bin kein Dichter, ich bin ein Bürger.“ Er war nicht im Vaterländischen Krieg gegen Napoleon in Russland gewesen, hatte seinen Militärdienst jedoch in Feldzügen gegen den berühmten und mächtigen Franzosen begonnen. 1814 kam er mit den russischen Truppen nach Paris. Die schönste und reichste Stadt der Welt lag jetzt unter den Füßen der Russen. Die Hauptstadt der Franzosen mit ihrer fremden, aber ihm gut bekannten und schönen Kultur, die Bewohner der Stadt, ihre Manieren fanden einen besonderen Platz in der Tiefe der Seele des jungen Rylejew. Doch die Franzosen hatten Angst vor ihnen, wollten nicht glauben, dass „die wilden Russen“ ihren großen Helden Napoleon besiegt hatten. Wenn sie in den Straßen von Paris erschienen, eilten die Pariser oft nach Hause. Trotzdem waren nicht alle so ablehnend gegenüber den russischen Offizieren eingestellt. Manchen von ihnen gelang es sogar, junge Damen kennen zu lernen, einige wurden auch zu einem Ball eingeladen. Dass die jungen russischen Adligen die französische Sprache gut beherrschten, half ihnen hier sehr.
Kondrati war während seines Aufenthalts in Paris sehr ruhig und wirkte sogar ein wenig melancholisch. Im Unterschied zu seinen Armeekameraden lief er nicht hinter den Pariser Damen her und nahm nicht an den Bällen teil. Kondratis Gedanken waren in diesen Tagen mit etwas anderem beschäftigt. Er hatte schon in Sankt Petersburg von einer Wahrsagerin namens Charlotte de Bernent aus Paris gehört; man sagte dort, dass ihre Vorhersagen immer einträfen. Jetzt wollte er sie unbedingt besuchen. Kondrati hoffte, dass ihn jemand von seinem Regiment zur Wahrsagerin begleiten würde. Die anderen jungen Offiziere, denen er von seinem geplanten Besuch bei Madame de Bernent erzählt hatte, lachten nur darüber. Die meisten waren sicher, dass es Frauensache sei, zu einer Wahrsagerin zu gehen. So sollte er Madam de Bernent allein besuchen.
Die alte und berühmte Wahrsagerin lebte in einem entfernten
Stadtteil von Paris. Es dauerte einen halben Tag, bis Kondrati ihr Haus
gefunden hatte, ein großes, aber altes und fast verfallenes Haus, das
auf den jungen russischen Dichter sehr mystisch wirkte. Auch vorher war
Rylejew schon zu Wahrsagerinnen in Russland gegangen und verließ sie
immer sehr begeistert. Aber jetzt, als er vor ihrem Haus stand, fühlte
Kondrati, dass er diese alte Französin nicht besuchen wollte. Ein Gefühl
von einem unvermeidlichen Unglück ließ ihn zögern. Er entschied sich
beinahe, zurückzugehen, blieb dann aber trotzdem vor dem Haus stehen.
Eine Viertelstunde kämpfte er mit sich selbst; sollte er es schaffen,
sich von der Nutzlosigkeit der Prophezeiung zu überzeugen? Schon wollte
er sich von diesem verdammten Ort entfernen, da kam ihm wieder der
Gedanke, dass ein Dichter sein Schicksal nicht fürchten sollte. Endlich
entschied er sich: Er würde zu der Wahrsagerin gehen und hören, was sie
ihm über seine Zukunft und sein Schicksal sagen würde. Kondrati ging die
kleine Holztreppe hoch und klopfte an der alten und schweren Eichentür
an. Eine schöne junge Frau machte ihm die Tür auf:
„Bonjour, monsieur! Vous désirez?“, fragte sie ihn sehr ruhig und
höflich. („Guten Tag, mein Herr! Was wünscht Ihr?“)
„Bonjour mademoiselle! Je voudrais voir madame de Bernent“, antwortete
der Russe. („Guten Tag Fräulein! Ich möchte zu Madame de
Bernent.“)
„Qui êtes-vous?“ („Wer seid Ihr?‟)
„Je suis le comte Kondrati Ryleev. Je viens de Russie. J’ai
ici une lettre de la com-tesse Dachkova…”. („Ich
heiße Graf Kondrati Rylejew. Ich komme aus Russland. Ich habe einen
Brief von Gräfin Daschkowa.“)
„De Russie?“, fragte die junge Dienerin, deren patriotische Gefühle
anscheinend verletzt waren. „Attendez monsieur, s’il vous plaît.“ („Aus
Russland? Wartet bitte, mein Herr“).
Sie machte die Tür wieder zu und verschwand. Lange ließ sie ihn nicht
warten und machte die Tür wieder auf: „S’il vous plaît, monsieur,
entrez.‟ („Bitte, mein Herr, tretet ein.“)
Die Tür schloss sich knarrend hinter ihnen. Auch drinnen schien dem neunzehnjährigen russischen Adligen alles geheimnisvoll und machte ihm sogar ein bisschen Angst. Die Dienerin begleitete ihn bis zum Zimmer von Madame de Bernent. Als er das Zimmer betrat, sah Kondrati eine alte Frau, die auf einem großen und uralten Sessel hinter einem vielleicht noch älteren Tisch saß. Sie war ganz schwarz gekleidet und trug einen langen schwarzen Schal. Unter dem Schal sah man ihre großen grauen Locken. Es war noch nicht zu spät, zurückzugehen, und Kondrati wollte sich schon umdrehen und diesem unangenehmen Haus entfliehen.
„Kommt, Monsieur, man braucht vor dem Schicksal keine Angst zu
haben. Es wird sowieso geschehen, was geschehen muss.“
Kondrati näherte sich der Alten. Sie zeigte auf einen ebenfalls sehr
alten Stuhl ihr gegenüber. Dem jungen Russen blieb nichts übrig, als
dort Platz zu nehmen. Er war aber immer noch unruhig und unsicher und
dachte weiter darüber nach, ob es überhaupt richtig war, hierher zu
kommen. Er schaute die Frau wieder an: Sie sah überhaupt nicht wie eine
Französin aus.
„Mein Vater war Zigeuner, Ihr habt recht, Monsieur“, sagte die
Alte. „Meine Mutter stammte aus der Bretagne. Sie traf einmal in ihrem
Dorf einen jungen Mann bei einem Zigeunerzug, der schön tanzte und sang
und wurde von ihm schwanger. Dann war er weg, und sie sah ihn nie
wieder.“
Die Alte schwieg und schaute Kondrati sehr aufmerksam an:
„Ihr schreibt Gedichte, Monsieur, schöne Gedichte. Euer Herz ist von
Liebe und Gefühlen erfüllt.“
Kondrati war überrascht: Woher wusste sie das alles?
„Das muss Euch nicht wundern, Monsieur, ich weiß viel über Euch, will
aber jetzt nicht über alles reden. Ich weiß, dass Ihr gekommen seid, um
etwas über Eure Zukunft zu erfahren.“
Die Alte holte die Karten aus ihren Röcken hervor, mischte sie
und legte alle nacheinander auf den Tisch.
„Eine junge Dame begegnet Euch auf Eurem Weg. Das ist die große Liebe,
die Euch sehr glücklich machen wird. Dann ist da noch eine Hofdame, die
dem russischen König sehr nahesteht. Sie wird zu Ihrer Geliebten,
Monsieur, ich sehe das deutlich. Trotzdem werdet Ihr aber große
Schwierigkeiten mit dem russischen König bekommen. Eure Freundschaft mit
diesem Buben wird schuld sein. Ihr werdet aber auch wegen Eurer beiden
Damen diesen Kampf gegen den König nicht aufgeben. Das bringt Euch an
den Galgen, Monsieur. Ich sehe, wie Ihr am Galgen baumelt.“
„Kann ich hier nichts mehr ändern?“, fragte der junge Russe in großer
Aufregung.
„Im Großen und Ganzen nicht, weil ein Mensch mit seinem eigenen
Schicksal geboren wird. Das Schicksal bietet dem Menschen aber immer
eine Wahl in den wichtigsten Momenten seines Lebens: Und von dieser Wahl
wird auch alles Weitere in seinem Leben abhängig sein.“
„Was sollte ich dann tun?“
„Wenn ein Mann kommt und Euch zu einer Verschwörung gegen den russischen
König anstiften will, unterstützt ihn nicht. So könnt Ihr Ihrem
Schicksal entkommen.“
Kondrati gab Madam de Bernent drei russische Goldstücke und lief hinaus.
Als Kondrati sein Gespräch mit der Wahrsagerin den eigenen Kameraden
erzählte, lachten alle erneut über ihn und sagten:
„Vergiss das! Das sind Weibersachen, alles Hokuspokus.“
Und Kondrati vergaß bald selbst die Weissagung der Alten…
…Neun Jahre später stellte ihm Wilhelm Küchelbecker, der auch
zur „Freien Gesellschaft der Liebhaber der russischen Literatur“
gehörte, jemanden vor, als sie wieder versammelt waren:
„Kondrati, das ist Iwan Puschtschin. Er ist ein Lyzeumskamerad von mir
und Pusch-kin.“
Puschtschin sah etwas älter aus als sie alle; er machte den Eindruck
eines selbstbewussten und starken Mannes.
An diesem Abend lasen Kondrati und Aleksandr Bestuschew ihre Gedichte
vor, die frisch in der Zeitschrift „Polarstern“ abgedruckt worden waren.
Puschtschin lobte diese – vor allem diejenigen, die aus Kondratis Feder
stammten.
Als alle wieder nach Hause gehen wollten, fragte ihn Puschtschin:
„Herr Rylejew, wollt Ihr nicht mit mir einen kurzen Spaziergang am
Newa-Ufer machen? Ich möchte mich nochmals zu Euren Gedichten äußern.“
Beide fuhren in ihren Pferdewagen bis zur Isaakskathedrale, und
von dort gingen sie zum Fluss. Das Newa-Ufer war menschenleer, nur ab
und zu konnte man einige Paare spazieren sehen.
„Eure Gedichte sind wirklich sehr schön, und ich möchte, dass immer mehr
Menschen davon erfahren“, fing Iwan an.
Danach erzählte er Kondrati von der Nordgesellschaft, vom Geheimbund,
der eine Revolution in Russland plane. Dass auch Kondrati unter ihnen
sein sollte, daran hatte Iwan keinen Zweifel. Wenn Kondrati solche
Kritik gegen das Zarenregime schreibe, wäre es an der Zeit, dies alles
auch tatsächlich zu verwirklichen. Kondrati stimmte ihm zu, das nächste
Mal die Sitzung des Geheimbunds zu besuchen und dort seine Gedichte
vorzulesen.
Nachdem er sich von Puschtschin verabschiedet hatte und nach Hause gekommen war, erinnerte sich Kondrati plötzlich an die Worte der Wahrsagerin aus Paris, Charlotte de Bernent. Vielleicht war ja Puschtschin dieser Mann, der Kondrati zu einer „Verschwörung gegen den russischen König“ rief? Die ganze Nacht konnte Rylejew nicht schlafen: Vielleicht wäre es besser, wenn er Puschtschin morgen absagen würde und nicht zur Nordgesellschaft ginge.
Kondrati hatte jetzt eine Tochter, die kleine Nastenka. Auch seine Frau liebte er weiterhin sehr. Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Revolution fehlschlüge? Dann konnte er nicht mehr mit der Gnade des Zaren rechnen. Auch seine Familie wäre dann fraglos davon betroffen. Er stellte sich vor, wie Natalija sich mit Tränen von ihm verabschieden würde und wie seine Tochter und Verwandten weinen würden. Kondrati würde vor ihren Augen zum Galgen geführt und gehängt. Nein, er musste morgen Puschtschin finden und ihm absagen.
Nachdem Kondrati am Morgen früh aufgestanden war, dauerte es eine gewisse Zeit, bis er sich wieder an das Geschehen von gestern erinnerte. Er fühlte sich unruhig, als er wieder an die Wahrsagung von Madam Bernent dachte. Er wollte sofort jemanden zu Puschtschin schicken, dann überlegte er es sich jedoch. Man musste alles, was er bis jetzt in Gedichten geschrieben hatte, verwirklichen, wie ihm Puschtschin gestern gesagt hatte.
Auszug mit freundlicher Genehmigung des Wieser Verlags
Klagenfurt.