Es gibt auch Autoren und Autorinnen, die sich nicht in die vorgegebenen Schablonen der gängigen Romanliteratur einpassen wollen, sondern eigene Schreibweisen entwickeln, also ihrem Beruf gerecht werden und so das literarische Terrain entgrenzen. Die „Die Schwerkraft der Verhältnisse“, neu aufgelegt, zeigt die Anfänge der Autorin Marianne Fritz, die bewusst am Literaturmarkt vorbei schrieb. Otto A. Böhmer beleuchtet den Anspruch der wagemutigen, 2007 gestorbenen, Schriftstellerin.
Erinnert sich noch jemand an den Bücherherbst 1985,
als im damals unangefochtenen Suhrkamp Verlag ein dreibändiges, mehr als
3.000 Seiten starkes Epos erschien, das schon im Titel anzeigte, was
Kritiker alsbald bemängeln durften, ohne sich über Gebühr anstrengen zu
müssen: „Dessen Sprache du nicht verstehst“?
Autorin des Werks war die damals 36-jährige Österreicherin Marianne
Fritz, die für ihren vergleichsweise überschaubaren, ja eingängigen
Debütroman „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ (1978) mit dem
Robert-Walser-Preis ausgezeichnet und zum großen Talent ausgerufen
worden war, woraus sich, wäre das Talent den geltenden Spielregeln
gefolgt, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen
Literaturkritik und Autorin hätte ergeben können.
Marianne
Fritz aber war daran nicht interessiert, sie schien entschlossen, zu
einer Schwierigen zu werden, der es nichts ausmachte, wenn ihre
Literatur den Lesern eher zur Last als zur Lust gereichte. Mit ihrem
zweiten Roman, “Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani“ (1980),
verabschiedete sie sich von den Übereinkünften des gepflegten Erzählens.
Dieser Abschied vollzog sich unspektakulär, hatte indes weitreichende
Folgen, die sich spätestens beim Erscheinen von „Dessen Sprache du nicht
verstehst“ auf 3.387 Seiten zeigten.
Die Kritiker, denen der Verlag vorab schon zugeraunt hatte, dass da aus
der Alpenrepublik „ein weiblicher Joyce“ zu Suhrkamp gestoßen sei, der
das literarische Erzählen gleichsam neu erfinde, fühlten sich unter
Druck gesetzt und reagierten überwiegend ungnädig: „Ein riesenhafter
Flohzirkus“, befand die „FAZ“. Neben der „unverschämten Dicke“ des
Buches war es vor allem seine Sprache, die die professionellen
Literaturbeschauer ächzen ließ. Wer sich um Höflichkeit bemühte,
erwähnte die „bewusste Verletzung der Regelgrammatik“ („Presse“) oder
sprach davon, dass es „möglich sein muss, etwas Neues in neuer Art zu
erzählen“ („Zeit“).
Zu einem Erfolg konnte der Roman unter diesen Vorzeichen nicht werden; die Autorin bekam es zu spüren. Die Literaturkritik pflegte ihre Vorbehalte, der Verlag ging auf Distanz. Marianne Fritz schrieb unerschrocken weiter, trieb es sogar noch toller und veröffentlichte zwei weitere dicke Werke: „Naturgemäß I“ (1996) und „Naturgemäß II“ (1998), die an die 10.000 Seiten umfassten. Die Veröffentlichung ließ sich Suhrkamp zwar mit einem Druckkostenzuschuss schmackhaft machen, gab der Autorin aber dezent zu verstehen, dass man nicht mehr auf sie setzte.
Marianne Fritz hat dieses Desinteresse, das heute gang und gäbe ist, wenn ein Autor aus der Erfolgsspur gerät, tief verletzt, ohne dass sie deswegen ins Klagen verfallen wäre. Überhaupt war sie tapfer, tapfer im Leben, tapfer in der Krankheit, der sie, 58-jährig, am 1. Oktober 2007 erlag, obwohl sie von ebendieser Krankheit zuletzt mehr wusste als ihre Ärzte.
Eine so wunderbar unzeitgemäße Autorin wie Marianne Fritz wird man heute nicht mehr finden, ja man würde sie wohl auch gar nicht suchen. In ihrer Erzählsprache, die ausufernd und verknappt, eindrücklich und mehrdeutig ist, misstraut sie der verbrieften Geschichte, nicht aber deren Geschichten, die das Vergangene neu herrichten und über sich hinausweisen lassen.
Ihrem etwas unbedarften Lektor bei Suhrkamp, den sie gern
beschimpfte, dann aber, als sich manches geändert hatte, auf anrührende
Weise ins Herz schloss, hat Marianne Fritz in einem Brief ihre
Arbeitsweise erläutert; sie könnte man all jenen Schriftstellern
empfehlen, die den schnellen Zugriff schätzen und die Sprache, um ja
keine unliebsamen Überraschungen zu erleben, auch schon mal in
Unterbindungsgewahrsam nehmen:
„Wenn Übereinkünfte nur mehr an dieser oder jener Wirklichkeit vorbei
wirksam sind, ich aber finde, diese oder jene Übereinkunft schädigt,
glättet, behindert, stutzt zurecht, vereinfacht, verflacht, deckt zu,
macht ruhig, wo Unruhe ist, vollendet, was eine Ruine ist, schafft
Übersicht, wo keine ist; da sag ich mir dann: So nicht, liebes Wort,
liebes Zeichen. Du leistest noch viel mehr, wenn es dir zugebilligt
wird.“
Wer noch einmal nachlesen möchte, wie das so war mit den Anfängen der Marianne Fritz, sei auf eine Neuausgabe der “Schwerkraft der Verhältnisse” verwiesen, die, angereichert durch ein informatives Nachwort von Daniela Strigl, passenderweise wieder bei Suhrkamp erschienen ist. Auffällig wird darin der eher karg instrumentierte Erzählton, den die Autorin früher angeschlagen hat. Im Zweifelsfall bleibt es bei nachklingenden Andeutungen, die sich selbst zu genügen scheinen und nicht auf Einlösung in der Zukunft setzen, mit der es Marianne Fritz ohnehin nicht so hatte.
„Weiblicher Joyce“
Sie kam aus einer Vergangenheit, die, von anderen achtlos durchmessen, für sie nie abgeschlossen war. „Die Schwerkraft der Verhältnisse“, von ihr geschätzt und gefürchtet, machte ihr zunehmend zu schaffen. „(…) gezwungen, einer inneren Uhr jene Treue zu bewahren, die ich keiner Kollegin und keinem Kollegen empfehlen könnte als Zumutung, die man sich antun soll. Allerdings ich entkomme ihr nicht.“
Eine Autorin wie Marianne Fritz fehlt uns, wobei es nicht
ausgemacht ist, ob sie überhaupt noch bereit wäre, ihr Erzählen
fortzuführen. Man kann nämlich auch vor der Zeit resignieren; alles,
fast alles ist gesagt, der Laden kann zugemacht werden: „Herausgewaschen
die Heimsuchung, hinabgeschwemmt der böse Traum, gestürzt der Koloß
Leben, so gibt es kein Sodom und Gomorrha mehr, keine Schuld und keinen
Traum.“
Der Beitrag erschien zuerst am 21.04.2023 in der Wiener
Zeitung
Ende des Erzählens