Wenn Schönheit die Welt verzaubert und die Menschen verwandelt, dann handelt es sich gewöhnlich um einen Text aus der romantischen Epoche. Wenn aber die libanesische Schriftstellerin Emily Nasrallah (1931-2018) in ihrer Erzählung „Sommerbrise“ ein solches Ereignis beschreibt, rückt sie uns damit nicht in eine zeitliche Distanz, sondern in eine des Milieus: in den dörflichen Alltag.
Beauty is truth, truth beauty –
that is all
Ye know on earth, and all ye need to know.
John Keats: Ode on a Grecian Urn
„Sommerbrise“ hätte ich sie genannt, hätte man mich um einen passenden Namen für sie gebeten, für dieses ganz besondere junge Mädchen, das da ohne Vorwarnung über unserem Dorf aufgegangen war. Herangeweht wie eine Sommerbrise von jenseits der Berge, trug sie frische Kühle in die von Wüstenwind und Selbstgenügsamkeit ausgetrockneten Seelen.
Es war in jener längst vergangenen Zeit, die sich in ihr Heute
ergeben hatte, getrost das Morgen erwartete und auf den Erinnerungen des
Gestern schlummerte, eine Zeit der glucksenden Wasserpfeifen und der
Heldentaten des Abu Said al-Hilâli. Plötzlich tauchte da diese Maxine
auf – schon ihr Name passte nicht zu unserem Ort, hatte nichts mit den
bei uns üblichen Namen – Hind, Abla, Laila, Suâd, Asma, Schahîna, Almâs
oder Nadschwa – gemein.
Maxine kam von Westen, aus Traumregionen, dem Land der Smaragde und
Rubine, dem Land der mythischen Geschichten.
Sie kam mit ihren Eltern, deren einziges Kind sie war. Dunkelhäutig, wüstenbraun, hochgewachsen, schlank und beweglich, der Kopf gekrönt mit nachtschwarzem Haar, das Gesicht geschmückt mit Augen, in denen die Schatten der Oliven spielten, die unser Dorf Dschûra reizvoll umgürten. All das, und dazu eine glatte Haut, ein ständig verwunderter karneolroter Mund – und wenn sich die Lippen schlossen, fiel ein Vorhang über zwei Reihen reiner Perlen herab.
Diese Einzelheiten können nicht unerwähnt bleiben, wenn man ein vollständiges Bild von ihr zeichnen und sie uns, den Mädchen im Dorf, gegenüberstellen will. Als Maxine kam, waren wir dabei, Backfische zu werden, kannten aber vom Leben nichts anderes als die Gassen von Dschûra, seine Weinberge und seine staubigen Dachterrassen. Auf diese stiegen wir hinauf, um Feigen auszulegen, Teig zu kneten und Burgul zu trocknen. Eine günstige Gelegenheit, um insgeheim schmachtende Blicke hinunter auf die Straße zu werfen, wo die jungen Burschen vorbeistolzierten und ihre sich entfaltende Männlichkeit und manchmal auch neue Kleidungsstücke zur Schau stellten.
Unsere war eine abgelegene, in sich abgeschlossene Welt, verbunden mit den Außenwelten nur durch ein erbärmliches Postauto, und in diese brach Maxine ein, in zauberhafte Kleider gehüllt und mit einer erstaunlichen Sprache im Mund.
Als sie kam, stoppten im Dorf Tratsch und Knatsch, und ihr Tun
und Lassen trat in den Vordergrund. Die Nachbarinnen versorgten uns von
früh bis spät mit Neuigkeiten. Sie ließen keine Geste und nicht die
kleinste Kleinigkeit unerwähnt. Und alle lauschten gierig.
„Heute stand sie am Fenster, in einem Nachthemd in der Farbe des
Morgennebels.“
„Sie hat uns von der Tür aus betrachtet; ein Gesicht wie der
Vollmond.“
„Sie hat vom Balkon herab den Jungen zugelächelt, ihnen sogar
zugewinkt.“
„Sie hat sich ewig lang mit einer ganzen Gruppe Jungs unterhalten, die
unter ihrem Balkon stehen geblieben waren. Danach wussten die nicht
mehr, wo sie eigentlich hinwollten.“
Geschichten um Geschichten, die die Nachbarinnen nur allzu gern
weitergaben, die sie durch ätherische Drähte und auf den Steinbänken
vor den Häusern verbreiteten, wo die Mädchen zusammenkamen, um Burgul
und Linsen zu lesen, Oliven zu sortieren, Labnakugeln aus Dickmilch zu
rollen, Essigfrüchte einzulegen oder Marmelade anzurühren.
Auch heute noch, nach so langer Zeit, amüsiert es mich, daran
zurückzudenken, wie belebend die „Meldungen“ über Maxine wirkten. Sie
wehten über uns hinweg wie Sommerwinde und entflammten Begeisterung in
unserer Brust, sie regten unseren Eifer an und pflanzten Träume in
unsere Köpfe. Und was für Träume!
Wie sie bloß gelernt hatte, ihr Haar so fantastisch
zurechtzumachen, fragten wir uns völlig naiv immer wieder. Warum waren
ihre Finger nicht so rissig wie die unsrigen? Und wie um alles in der
Welt konnte sie ihre rotlackierten Nägel so lang und so sauber halten?
Dann diese Lippen! Wie exakt sie nachgezogen waren. Und dazu diese
Kleider!
Wie konnte ein Mädchen es wagen, ein Kleid anzuziehen, das den obersten
Teil des Rückens samt Schultern frei ließ? Das ihre reizvollen Beine und
Arme hervorhob, ihre wundervolle Brust, die Taille und all die
weiblichen Merkmale, die im Schatten und fern vor neugierigen Augen zu
halten unsere Mütter ungeheure Anstrengungen unternahmen.
Woher nahm dieses Mädchen den Mut, in langen oder kurzen Hosen hinaus in
die Weinberge zu gehen oder gar zu reiten? Maxine war eine exzellente
Reiterin und wusste hervorragend mit Pferden umzugehen. Ich sehe sie
noch immer vor mir: Auf Fâjis Bey al-Muallas Fuchs kommt sie den Weg zum
Dorf entlanggeritten. Eine eindrucksvolle Gestalt hoch zu Ross. Sie
erhellt den Staub, der um sie herum aufwirbelt, und zerstreut ihn, wie
die aufgehende Sonne die Nebelschwaden erhellt und zerstreut.
Unser Lebensrhythmus wurde ein anderer, nachdem Maxine ihren Fuß ins Dorf gesetzt hatte. Vielleicht sollte es besser heißen: Der Lebensrhythmus in Dschûra und Umgebung wurde ein anderer. Der Gesang der Stieglitze und der Nachtigallen veränderte sich. Morgen und Abende nahmen einen neuartigen, ungewohnten Geschmack an, ebenso die Mondnächte.
Die stärkste Veränderung war bei den jungen Burschen zu bemerken, in ihrem Benehmen untereinander. Diese Sommerbrise, dieses Mädchen mit seiner Ausstrahlung, schien wie ein immenses magnetisches Feld, das auf die Burschen wirkte, ohne dass sie sich dessen bewusst wurden, und sie in seine Richtung zog. Es war ein Sog, sie folgten nicht aus freien Stücken. Alle Wege führten zu ihr, und so scharten sie sich um ihr Haus oder versammelten sich unter ihrem Balkon und hielten sich mit allerhand Gerede beschäftigt, überstrahlt von ihrem Gesicht, auch wenn Wände und geschlossene Fenster sie von ihr trennten.
Sie hingen dort lange herum, bis nach Sonnenuntergang. Und wenn
sie nicht auftauchte, schlurften sie enttäuscht von dannen – mit Füßen,
aus denen der Eifer gewichen, denen der Schwung abhandengekommen
war.
Völlig anders reagierten sie, wenn das Gegenteil eintrat und Maxine in
einem ihrer aufregenden Kleidungsstücke am Fenster oder auf dem Balkon
erschien, wie der Mond hinter dem Hermon, wenn sie gar herunterkam, um
über die Ländereien ihrer Familie zu spazieren. Dann erwachten sie aus
ihrer Lethargie, ihre Augen leuchteten seltsam, und sie begannen, mit
großem Eifer lautstark Debatten zu führen, in der Hoffnung, ihr Ohr zu
gewinnen oder gar einen ihrer Blicke zu ergattern.
Ob sie merkte, was sich da abspielte, bleibt ihr Geheimnis.
Jedenfalls formierte sich, wenn sie dann heiter und unbeschwert die
Straße entlangschritt, die Schar zu einer Eskorte, die sie umgab oder
ihr folgte, fest im Griff ihrer Anziehungskraft.
Die Prozession zog zu einer dieser Terrassen, die den Burschen im Dorf
seit alters als Treffpunkte dienen, wo sie abends plaudernd
zusammensitzen und vergnügliche Stunden verbringen, besonders in
mondhellen Sommernächten.
Maxine liebte den Mond. Den Mond von Dschûra musste man lieben. Ihre
Begeisterung wuchs noch, wenn sie in klaren Nächten auf dem Balkon den
ersten Schimmer des Vollmonds erwartete und zusah, bis er in voller
Pracht erstrahlte. Dann klatschte sie in die Hände und trällerte mit
hinreißender Stimme ein Liedchen. Sie kam vom Balkon herab und wanderte
wie verzaubert Richtung Osten, die Burschen im Schlepptau, die nicht
wussten, ob sie mit ihr staunen oder singen sollten.
In einer dieser Nächte, die mit Goldlettern in der Chronik
unseres Dorfs festgehalten sind, trat sie zu einem Burschen, einem
gutaussehenden jungen Mann, auf den ihr Auge gefallen war.
„Kennst du irgendwelche Volkslieder?“, fragte sie ihn.
Der Junge erstarrte. Ihre Stimme schickte kalte Schauder durch alle
Zellen seines Körpers. Heiße Schübe stiegen ihm in den Kopf. Er wusste
nicht, was er antworten sollte. Einer seiner Kameraden sprang ihm zur
Seite.
„Farîd hier“, erklärte er ihr, „kann nicht singen. Dafür ist bei uns
Radwân zuständig, er hier. Los, komm her, Radwân, lass uns was
hören.“
Das Mädchen trat zu Radwân und fragte ihn freundlich: „Kennst du
wirklich Volkslieder und kannst sie singen?“
„J … ja … ja“, stammelte er.
Da griff sie zu. „Singen wir doch zusammen!“, forderte sie ihn auf.
„Wenn ich falsch singe, hilfst du mir.“
Sie falsch singen?! Der Junge stand da wie betäubt. Diese seltsame
Fremde! Woher sollte sie denn ihre Lieder kennen? In allem hätte er
Konkurrenz von ihr erwartet, nicht darin.
Maxine erlaubte ihm nicht, lange nachzudenken und es sich womöglich
anders zu überlegen. Sie legte los. Ihr kurzes Räuspern ließ alle um sie
herum verstummen. Wie angewurzelt standen sie da, als die Fremde
verschiedene Lieder aus dem Schatz des Dorfes anstimmte, Lieder voller
Leidenschaft und Sehnsucht. Etwas in ihrem Gesang berührte die Burschen
und löste langsam den Knoten in ihren Zungen. Radwân verlor seine
Hemmung. Gesang und Gegengesang gingen zwischen ihm und dem Mädchen hin
und her. Er lockte sie, weckte ihren Eifer, und sie wurde besser und
besser. Dann hob sie ab.
Doch die Überraschungen waren noch nicht zu Ende. Das Mädchen trat zu
Radwân, hängte sich bei ihm ein und forderte ihn auf, mit ihr die Dabka
zu tanzen. Der Bursche war sprachlos. Seine Zunge gehorchte ihm nicht
mehr. Er starrte das Mädchen an. Doch dann retteten ihn seine Kameraden.
Mitten auf der Straße tanzten sie los.
In seiner Begeisterung zog Farîd die Nai-Flöte aus seinem Hosenbund und
ließ sie von Sehnsucht und Leidenschaft flüstern, von all den
Empfindungen tief in seinem Innern. Und so schob sich in die Stimmung
von Dschûra ein neuer Schwung. Er weckte die Schläfer und bewegte die
Rosen- und die Jasminsträucher, und diese gaben ihre Geheimnisse preis
und legten ihren Duft über die Häupter der Menschen.
Die Leute schauten aus den Fenstern und traten auf die Balkone. Manche
kamen herab auf die Straße, um das Neue zu betrachten, das in die Adern
des Dorfes strömte. Unfassbar, dass ein Mädchen auf der Straße tanzte,
ja, tanzte, umgeben von jungen Burschen, den Söhnen des Dorfes, die mit
begeistertem Gesang ihrer Freude freien Lauf ließen. Ein fremdes
Mädchen, von dem niemand wusste, woher es gekommen war, weckte sie aus
ihrem Dösen. Sie pflanzte Fröhlichkeit in ihre Gärten und ließ sie im
Schatten ungläubigen Staunens. War das, was sich hier abspielte,
Wirklichkeit?
Aber der Mond schaute von hoch oben herab und betrachtete das Treiben. Und die Reben verflochten sich über den Häuptern der Tanzenden, wie Kränze von Lorbeer segneten sie ihre Freude. Aus den Tiefen des Tals hallte das Echo zurück. So war also das, was sie hier sahen, Wirklichkeit, keine Illusion und auch keiner dieser sommerlichen oder winterlichen Wachträume.
Sie tanzten die ganze Nacht. Maxine zeigte sich ebenso vertraut mit der gemeinschaftlichen Dabka wie mit dem Solotanz. In einem Augenblick lodernder Begeisterung löste sie sich von den anderen und begann sich mitten im Ring zu drehen. Im Rhythmus des Klatschens wirbelte sie herum, wiegte, hoch aufgerichtet, hin und her, wie eine dattelschwere Palme. Das Klatschen wirkte ansteckend. Es sprang von der Straße hinauf zu den Balkonen und zu den Fenstern, es erfasste alle Hände, auch diejenigen, die mit den Fesseln der Tradition gebunden waren, die Hände der jungen Mädchen, die sich hinter den Vorhängen versteckt hielten. Die Palme tanzte weiter, drehte sich um sich selbst und blies in ihrer Ausgelassenheit Küsse in die Runde.
Und dann hob sie sich von der Erde, als wollte sie losfliegen. Alle sahen es. Welch ein Rausch bewegte dieses Mädchen in jener Nacht! Die Flöte schluchzte und klagte, die Stimmen brausten, und die Palme senkte ein wenig ihr Haupt. Dann streifte sie ihre Schuhe ab. Ihre Füße schmiegten sich an die warme Erde, die Erde ihrer Eltern und Großeltern, zu der sie aus der eisigen Kälte in der Fremde zurückgekehrt war.
Maxine entschwebte in eine den anderen nicht zugängliche Welt, eine Welt, die vom Echo des dörflichen Getümmels und den Melodien seiner Flöten unerreicht blieb. Sie erklomm eine Stufe des Rauschs hoch über der Erde, ja, sie verwandelte sich in eine Sommerbrise, die dem Dorf und seinen Bewohnern erfrischend kühle Luft herantrug. Und niemand mehr war imstande, ihr dorthin zu folgen.
Sie überließen sie dem Tanz der vom Körper gelösten Seele. Sie standen nur da und schauten, bis sie den Gipfel erreicht hatte und sanft und weich auf den Boden zurückkehrte und wie eine Rose, erwachsend aus den Tiefen der Erde, zum Stillstand kam.
Niemand bewegte sich auf sie zu. Die Flöte war verstummt, die
klatschenden Hände waren erstarrt. Die Erwartung stand wie eine Wand
zwischen ihnen und ihr, die, zurück von ihrem Höhenflug, langsam wieder
zu sich kam und sich zurechtfand. Sie erblickte ihre Schuhe, die noch
immer lagen, wo sie sie abgestreift hatte, ging hin und hob sie
auf.
Wieder aufrecht, vergewisserte sie sich der Umstehenden und warf ihnen
einen unverbindlichen Blick zu. Ihre Lippen murmelten etwas. Für sie war
das Fest beendet. Dann ging sie. Und während sie langsam dahinschritt,
schien sich der Staub in eine Wolke zu verwandeln, ein ätherisches
Gefährt, das sie aufnahm. Darauf wiegte ihr Körper, stolz und
fern.
Was nach jener Nacht geschah?
Nun, das ist eine lange Geschichte, und die Blätter, auf denen sie
verzeichnet ist, sind fester Bestandteil der Dorfchronik. Alles hat mit
diesem ersten Tanz begonnen, mit der ersten Melodie, und wandert bis
heute weiter von Generation zu Generation.
Gegen Ende September, als die Herbstwolken über den Häuptern der Bauern auftauchten und von den Flügeln der Zugvögel durchschnitten wurden, verließ die Sommerbrise unser Dorf. Sie verließ uns, nachdem sie Freude in unsere Herzen und unsere Gassen gebracht hatte. Sie hatte alte Melodien belebt und schlummernde Träume geweckt. Sie hat uns, den jungen Mädchen im Dorf, alle Wege geöffnet. Wir gingen hinunter auf die Plätze und die Straßen und beteiligten uns am Kreislauf des Jahres und den Festen des Dorfes. Wir tanzten mit den anderen die Dabka, und dann tanzten wir den Solotanz, bis die Erde sich mit uns drehte.
Auszug aus „Kleine Festungen”. Mit freundlicher
Genehmigung von Edition Faust.