Der Lyriker Alexandru Bulucz ist seit seinem Auftritt beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt einer größeren Öffentlichkeit bekannt; und der Prosatext, den er dort vortrug, ließ den künstlerischen Anspruch erkennen, den er auch mit seinen Gedichten an den Leser stellt. Seine Lyrik ist nicht unverständlich; dennoch erfordert sie Sorgfalt des Lesens, Empfänglichkeit fürs Musikalische und Geduld mit dem Ungefüge. Bernd Leukert wagt eine Annäherung.
Dann hörte ich, wie etwas zu Ende ging
Und gleichzeitig etwas Neues begänne,
hörte auf das Spiel, hörte auf die dem Spiel eigene Stille,
hörte, die schönsten Geschichten seien niemals geschrieben worden,
hörte, sie stürben mit ihren Erzählern,
und hörte, die Hände graben nicht nach
der eigenen Geschichte – da unten.
In: A. Bulucz, Aus sein auf uns. Lyrik Edition 2000, Allitera Verlag, Buch&media GmbH, München 2016.
Die eigene Geschichte – da unten
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Alexandru Bulucz läßt uns mit seinen Gedichten ahnen, daß das, was da zu Ende ging, ein erster Lebensabschnitt, nicht aber das Paradies der Kindheit und das Glück der Jugend war. Im Literaturblog dlite vom 9. Mai 2018 („Literatur kann eine Skalierungsfrage sein“) sein Einspruch: „Aber eine Sache will ich doch nennen: die paar unbeschreiblich glücklichen, weil irgendwie magischen Kindheitstage, die ich bei meiner Urgroßmutter, die kürzlich mit 101 gestorben ist, verbracht habe. Sie wohnte abgelegen pe Valea Gârzii, la Crişcior, lânga Brad, în Hunedoara. Selbst Google Earth hält es für vernachlässigbar, die Valea Gârzii entlang zu fahren und sie sich zu erschließen. Ein unglaublich einfaches, ja fast primitives und deshalb glückliches Leben wird dort geführt.“
Was da gleichzeitig mit der Überschreitung von Landesgrenzen neu begann, setzte mit der Überschreitung eines alten Lebensentwurfs ein, mit dem Entschluß, ein Anderer zu werden. Wer sich die Lyrik Bulucz’ erschließen will, stößt früher oder später auf diesen biographischen Einschnitt, der sich auf Gemüt, Sprache und Denken niederschlagen mußte.
Beginnen wir mit dem Ende. Unter dem merkwürdig umständlichen Titel „Beim Weitspucken letzter Sauerkirschkerne Identität“ steht das letzte Gedicht des Bandes „was Petersilie über die Seele weiß“, ein Dreizeiler:
Solch skripturales Vergnügen am Schmerzland Erinn’rung!
Das steht im Verdauungsverdacht, unterhält die Verdunklungsgefahr.
Doch ich habe das Recht, auch zu schweigen.
Die Poesie ermöglicht aber, anders als Ludwig Wittgenstein
deduziert, schweigend zu sprechen und schreibend zu beschweigen. Dabei
ist zu bedenken, daß dies zumeist nicht bewußt geschieht, es sei denn,
in einem Akt des verwandelnden Überschreibens.
Das Erinnern, das sich aus dem „machen, daß jemand einer Sache inne
wird“ – so die Grundbedeutung im Mittelhochdeutschen – herleitet,
verläßt sich auf ein Repertoire von Erfahrungen, auf die kein Verlaß
ist.
„Es gibt keine reinen Fakten der Erinnerung.“, bemerkt Hans Blumenberg
in „Ein Fall von Selbsthintergehung“: „Was nicht als Faktum Sache der
deskriptiven Feststellung oder exakten Messung sein kann, gerät unter
das Regime der narrativen Transformation und durch diese in die
Kompetenz der Hermeneutik.“ Wir sind auf’s Deuten angewiesen.
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Geboren im Osten, im Westen des Siebenbürgischen
Beckens, der Gebärmutter, Eltern Musiker, Vater Gesang
u. Gitarre, Mutter Hausfrau u. schrill
Erinnerung an wer weiß wie viele wertlose Scheinlöwen
(Lei, Münzen u. Scheine) in der Pfütze im Plattenbauhof
…
eine Tracht Prügel von der Mutter für eine
vor ihrer Zeit geöffnete Limonade. Der Vater, zurück aus
Jugoslawien. Der Krieg, der dem Schwarzarbeiter den
Laufpass gegeben hatte, stimmte die weißen
Kunststoffsaiten. …
(aus Alexandru Bulucz: Erinnerungen, Defragmentierungen)
Oberflächlich betrachtet, schreibt Bulucz an seinem Leben
entlang, fertigt eine Bestandsaufnahme der erinnerten Bilderfolgen und
der sprachlichen Benennungen an, die seine Kindheit und Jugend in
Rumänien prägten. Genauer besehen, folgt er einem poetologischen Ansatz,
der über eben diese biografischen Daten sich erschließt.
Alexandru Bulucz wurde 1987 in Alba Iulia, in der ehemaligen
Sozialistischen Republik Rumänien, geboren und ist – nach lexikalischer
Auskunft – ein deutschsprachiger Lyriker, Übersetzer und Herausgeber
rumänischer Herkunft. Er hat immer wieder betont, er sei kein
Rumäniendeutscher. (Seine Mutter ist Siebenbürgerin; sein Vater gehört
der ungarischen Minderheit in Rumänien an –, und die Fremdsprachen in
der Schule waren Französisch und Englisch.). Seine Geburtsstadt verläßt
er als 13jähriger, zieht zur Mutter nach Aschaffenburg, macht am
Sportinternat in Bad Sooden-Allendorf sein Abitur und studiert
Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an
der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, u. a. bei
Werner Hamacher.
Seit 2013 veröffentlicht er regelmäßig Lyrik in Literaturzeitschriften
und Anthologien sowie Artikel und Rezensionen in Onlinefeuilletons,
Print und Rundfunk. 2015 gründete er die philosophische Gesprächsreihe
Einsichten im Dialog in der Edition Faust und gibt sie seitdem heraus.
Der erste Band der Reihe war Sterbliche Gedanken, ein Gespräch mit dem
Philosophen Dieter Henrich. Er übersetzte unter anderem Jean-Luc Nancy
aus dem Französischen und Alexandru Vona aus dem Rumänischen ins
Deutsche. Sein Lyrikdebüt, wofür er zu den besten Lyrikdebüts ins Haus
für Poesie Berlin eingeladen wurde, erschien 2016. Seine Lyrik liegt auf
Arabisch, Englisch, Rumänisch, Spanisch und Türkisch vor. Er gab die
Nummern 4 und 5 der Zeitschrift für Literaturkritik Die Wiederholung und
die Frankfurter Literaturzeitschrift OTIUM mit heraus und ist gegenwärtig
Redakteur des Onlinemagazins Faust-Kultur. Seit 2017 bespricht er mit
Insa Wilke und – dem inzwischen verstorbenen – Michael Braun lyrische
Neuerscheinungen für den Büchermarkt des Deutschlandfunks. 2022 las er
beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.
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Was dem Vergessen entgeht, heißt Erinnerung. Aber – wie wir uns
erinnern – arbeitet das Erinnerungsorgan nach Selektionskriterien, die
es nicht transparent, geschweige denn nachvollziehbar macht.
Darüberhinaus arbeitet dieses Speichermedium durchaus nicht so
zuverlässig wie ein Archiv, in dem an einem bestimmten Ort einmal
Abgelegtes an der gleichen Stelle wieder auffindbar ist – oder
wenigstens sein sollte. In diesem Gebäude findet offenbar ein ständiges
Um- und Aufräumen statt, so daß ohne einen erkennbaren Masterplan neue
Mehrfachverbindungen und Kontexte hergestellt werden.
Wenn also ein Dichter das aus seiner Kindheit und Jugend zusammenbringt,
was er für erinnerungswürdig und erwähnenswert hält, dann stellt sich
die Frage: Welche Option mischt ihm sein Memory-Spiel zusammen, und wozu
dient es ihm?
Max Frisch, der den Zweifel an der Identität zur großen Kunst
entwickelte, bemerkte in einem TV-Porträt, ein Schriftsteller versuche
von einem gewissen Zeitpunkt an, nur noch ein Leben zu führen, das er
auch beschreiben kann. In seinem Roman „Stiller“ aber bekannte er: „Man
kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.“ Zwischen den
beiden Zitaten liegt eine Barriere: die Übersetzungsgrenze. Aber auch
die Differenz von geführtem und gelebtem Leben. Das gilt für den
Romancier; dem Lyriker ist hingegen eine weitere Dimension
unabdingbar:
„Die Prosa ist gleichsam die Schrift in der Sprache. Der Ursprung der
Poesie hingegen liegt statt in der Schrift in ihrem Verlust – als deren
rhythmisches Relikt ist sie im Unterschied zur Prosa durch
Unbestimmtheit, Willkür und einen permanenten Exzeß über die Grenzen des
Wirklichen gekennzeichnet.“, schreibt Werner Hamacher in „der
ausgesetzte Satz“.
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Es sind keine spektakulären Formexperimente, mit denen
Alexandru Bulucz die Grenzen des Wirklichen überschreitet. Das
widerspräche auch seiner mehrfach geäußerten Bemühung um Lesbarkeit. Es
sind eher strategische Wagnisse, die er schreibend eingeht. Sie machen
sich in der Makrostruktur eines Gedichts – oft unauffällig –
bemerkbar.
Das große, erzählende Gedicht „Requisiten, Reliquien“, das 2021 in der
vierten Ausgabe von „Textland“ (Edition Faust) erschien, beginnt mit
einem Blick auf eine Region, eine Landschaft mit mehreren Städten und
Gemeinden, und entfaltet von dort ein Panorama des Landlebens, um wie
mit einem Zoom von der Totale bis zur Großaufnahme beim Sterben der
Großmutter zu enden. Dabei entsteht eine gleichsam szenografische
Bilderfolge, die das Gedicht als Gattung in den Hintergrund treten
läßt.
…
Als er sie zum letzten Mal besuchte, lag sie im Bett.
Der gestrickte bunte Bettüberwurf unter ihr
Verdeckte zwei Daunenkissen am Kopfende u. eine Daunendecke,
die sie selbst hergestellt hat.
Wie es sich anfühlt, in eine Daunendecke eingewickelt zu sein,
erfuhr er auf dem Gehöft.
Die Federkiele der Daunen drangen jede Nacht durch die Decke u. den Schlafanzug
u. piksten seine Haut an,
als würde der, der sie geschärft hat, auf seiner Haut schreiben wollen.
Er nahm zum ersten Mal ihre ergrauten u. drahtigen Haare wahr.
Ihr dunkelblaues Kopftuch lag in Griffweite auf einem Stuhl.
Irgendwann legte sie sich wieder hin,
u. er fing an, ihre nackten, fast ein Jahrhundert alten Füße zu massieren.
Was er dabei empfand, ihre Füße in den Händen zu halten
u. ihre Geschwollenheit zu ertasten
u. ihnen ein einziges Mal in seinem Leben eine Wohltat zu erweisen, löschte die Erinnerung an die Worte, die gesprochen wurden,
wenn überhaupt gesprochen wurde. …
(aus Alexandru Bulucz: Requisiten, Reliquien. in: Textland 4, hrsg. von Riccarda Gleichauf, S. Edition Faust, Frankfurt am Main 2021.)
Ein Zweites sind die Stolpersteine, mit denen Bulucz
Allgemeinplätze in bedeutsame Fremdkörper verwandelt. So heißt es etwa
in dem Gedicht, das mit den Worten „ALS STATUSSYMBOL“ beginnt: „Wir, Rumäniens
letzte Mokaner, bei Gott, ich übertreibe mitnichten …“.
Das liest sich erst einmal wie „Rumäniens letzte Mohikaner“, weist aber
nicht auf James Fenimore Coopers Roman und ist auch kein Schreibfehler,
sondern meint die Mocani, eine ethnische rumänische Untergruppe, die
sich aus Hirten aus Siebenbürgen zusammensetzt. Wortschöpfungen wie
„Miglionär“ öffnen spielerisch eine Bedeutungsambivalenz. – Mit anderen
Worten, mit der Lesbarkeit bietet der Lyriker einen gangbaren Leseweg
über eine Oberfläche an, aus der eigensinnig wie Baumwurzeln oder
Fragmente verschütteter Geschichte Hindernisse ragen, die auch Risse
oder Spalten sehen läßt, Verwerfungen des Unsäglichen und das Recht,
auch zu schweigen.
Weiterhin fällt in manchen Gedichten Alexandru Bulucz’ die Tendenz zur Auflösung thematischer Bindungen auf: Was ein Gedichtende über seinen Anfang weiß, scheint vergessen. So kommt „L’animal que donc je suis et la vie quotidienne, o.“, mit 15 Vierzeilern (mit Anrede und einem Nachsatz) als Brief gestaltet, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Am Anfang steht die Lektüre von Art Spiegelmans „Maus“, gefolgt von einem rosenkriegerischen und von der Not entfachten, mehrfachen Ringwechsel, zurück zur Maus und einer Beispielreihe juristisch schuldfähiger Tiere, inklusive eines Eier legenden Hahns aus dem Jahr 1474 und der Verhaftung eines Feuerdrachens in China. „Ich schweife ab, ich weiß. Verzeihe, bitte!“ – Kurz: Das Gedicht ist eine Abschweifung. Auch „Des Dornausziehers Elegie“ verläuft sich nach einem eigenen, verborgenen Kontext, um ziellos zum Ende zu kommen. In „Mein Kind“ führt das Wort „Moral“ als Leitmotiv in einer nicht-kausalen Faktensammlung von der Klatschtechnik der Schmetterlinge über Orte, die auf der Landkarte nicht existieren, und Kamelen zu gefrorenen Fröschen, um mit seinem Echowort „oral“ zu enden. Es handelt sich also um ein ‚unmoralisches’ Gedicht, das – und das ist tatsächlich eine Konstante in Bulucz’ Dichtung – dem Wort nachgeht. Er spürt, zuweilen mit unverhohlener Entdeckerfreude, den Worten nach, ihren Herkünften, Verwandtschaften, Mehrfachbedeutungen und zieht daraus den oft sprunghaften Fortgang der poetischen Argumentation.
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Ein 13jähriger Rumäne beschließt, ein Deutscher zu werden. Wie
geht das? Die Selbstverständlichkeit der Muttersprache setzt sich der
anfänglichen Unverständlichkeit der neuen Sprache entgegen. Ist der
Prozeß der Aneignung abschließbar? Selbst wenn das zweite Sprachhabitat
erworben und beherrscht ist, begleiten schnell-heimliche
Sprachmaterial-Prüfungen das Sprechen, bleibt ein dünner Filter des
nicht Selbstverständlichen, Fremden erhalten.
So, wie die besten Korrektoren Menschen sind, die die zu korrigierende
Sprache nicht beherrschen, weil sie aus diesem Grunde nicht
„ganzheitlich“ lesen können, sondern jeden Buchstaben überprüfen müssen,
gewinnt der Lyriker einen besonderen Blick auf die erlernte Sprache.
Mit Bezug auf Hubert Fichtes Hinweis auf das „Petersilien-Massaker“
schreibt Bulucz in SPRITZ
(02.02.2018):
„Ohne etwas relativieren zu wollen, möchte ich in einem größeren Kontext
behaupten, dass das Schreiben angesichts des Todes ein Schreiben mit
dem eigenen aphasischen Dialekt ist, ein Schreiben mit Patholekt, ein
Leiden am Sich-nicht-normgerecht-artikulieren-Können. Dass ich um
Grammatikalität, „gerade Sätze“ und Lesbarkeit bemüht bin, liegt
vielleicht in der Dialektik dieser Bedingung. Zu schmerzlich ist es
zudem, mitansehen zu müssen, wie mein Rumänisch immer mehr außer
Gebrauch gerät und peu à peu ausstirbt, zu groß war und ist die
Anstrengung, sich Deutsch beizubringen, als dass ich den Mut aufbringen
könnte, ihm die Grammatikalität abzusprechen, wo es sich gerade in der
Lyrik anbieten würde.“
Was Alexandru Bulucz nahezu als Handicap beschreibt, kann bei muttersprachlichen Dichtern ein Desiderat sein: Der Fremdblick auf das Formale und die Regelhaftigkeit der Sprache erschließt auch ihre befremdliche Dimension, der sich für eine ‚Poetisierung’ nutzen läßt. Der Lyrikkritiker Michael Braun erzählte in faust-kultur im März 2018: „In einer Art Poetikvorlesung hat der Dichter Peter Waterhouse einmal eine schöne Definition zum Verhältnis von Poesie und Übersetzung gegeben, die vielleicht auch übertragen werden kann auf Gedichte selber: Das Ziel einer guten Übersetzung sei, „das Deutsche wieder unbekannter zu machen“. Das finde ich sehr beeindruckend. Das Deutsche wieder unbekannter machen, unselbstverständlicher, unvertrauter. Etwas, wo man ins Stolpern gerät, wo man Sprache staunend wiederentdecken kann. Oder, wie Harald Hartung sagt: Man schreibt ja nur, weil man mit der Sprache nicht zurechtkommt. Das Deutsche wieder unbekannter zu machen, wäre auch ein Ziel guter Gedichte.“
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Mit dem Studium beginnt für Alexandru Bulucz eine intensive Textarbeit: „Mein erster ernsthafter Kontakt mit deutscher Literatur war Paul Celan. Ihn zu lesen, begann ich ab 2008. Da war ich aber gerade acht Jahre alt, wenn man in Deutschjahren rechnet. Erst in diesem Jahr erreiche ich in diesem Sinne Volljährigkeit.“, bemerkt er im Literaturblog dlite vom 9. Mai 2018 („Literatur kann eine Skalierungsfrage sein“)
Dieser Anfang mit Celan mußte den Novizen am Schrein der deutschen Literatur zugleich an die Peripherie der Dichtung versetzt haben, mitten in ihren Überlebenskampf, den Celan selbst in „Meridian“, seiner Büchnerpreisrede 1960 in Darmstadt, so beschrieb:
„ … das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.“
Bulucz hat nicht den Celan’schen Ton übernommen. Dennoch ist der Einfluß des Landsmanns auf die eigene Poesie nicht gering, die sich manchmal fast so liest, als ob sie sich vor dieser Autorität zu rechtfertigen habe. Die Bezüge und Verweise auf Celans Gedichte sind versteckt oder offensichtlich, dennoch nicht so häufig, daß Zweifel am Eigensinn der Bulucz’schen Dichtung angebracht wären. Hingegen findet sich darin ein weitläufiges Netz an Korrespondenzen mit den Werken anderer Dichter wie Joseph Brodsky, Welimir Chlebnikow oder Friederike Mayröcker und Jean Genet, und eben auch Paul Celan. In einem Fall nimmt Bulucz einen bedeutsamen Gegenstand aus Celans „Die Hand“, das Stundenholz, und macht es zum Thema eines seiner eingängigsten und eindrücklichsten Gedichte.
„Stundenholz“ von Alexandru Bulucz beginnt mit einem Scherz. Mit Bezug auf den mittelalterlichen Universalienstreit hatte Gertrude Stein 1922 als Teil des an Wiederholungen nicht armen Gedichts „Sacred Emily“ die Zeile „Rose is a rose is a rose“ untergebracht, die so in den Sprachschatz übergegangen ist, daß sie geradezu als Synonym für die Poetin gebraucht wird. Bulucz wendet, den englischen Gruß parodierend, das philosophische Problem ‚nominalistisch’ auf die Rose und den Namen Stein an. So hebt er an:
Seid gegrüßt, Rose, erbarmt Euch, hab’ Euch verwechselt, gestern
Für was denn gehalten, einen Stein. Einen Stein im Vogelzug.
…
Habt Gnade mit mir Verborgenem. Ich bin der Herr, der bei Euch
u. bei ihr zugleich gewesen …
In diesem Gedicht, dessen Verbreitung inzwischen enorm ist, hat Bulucz seine Motive auf eine Weise konzentriert, die übersteigt, was wir Leser erfassen können, vielleicht auch mehr, als er selbst weiß. In märchenhaften Sprachbildern verflicht er Reales mit Irrealem und spinnt so das ganze Gedicht hindurch das Spiel mit dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten fort.
… Wir flogen Karpatenhügel entlang,
über den südlichen Bug. Den bukowinischen Fragen, wo Heimat
beginne, Erinnerung ende, glaub’ ich die Fragezeichen. Wir flogen
über Holzrauch von Klöstern, über liturgische Rufe aus Stunden-
trommeln von Mönchen, toaca-Klänge spannten eine Himmelsleiter
auf uns zu u. über uns hinaus. Wir beteten mit den Orthodoxen,
den Mönchen, die zu uns heraufkletterten, den Kopten, Griechen,
Armeniern, Bulgaren, Russen (den Litauern, Letten u. Esten).
Ahnt Ihr, Rose, was ich glaube? Dass die rumänischen Mütter
Ihre Söhne zu Mönchen erziehen. …
Nämlich, indem sie ihnen die Zubereitung des salată de vinete
beibringen, bei der das Fruchtfleisch der gegrillten Aubergine mit einem
aus Buche geschnitzten Äxtlein kleingehackt wird, – vermittelt mit der
Schlagtechnik und den Rhythmen der toacă. Die toacă ist ein langes
Schlagbrett aus Holz, das in orthodoxen und katholischen Kirchen
anstelle der Glocken mit Hämmern geschlagen wird.
Auch hier wird Erinnerung zur Sprache gebracht. Aus Maria Magdalena
werden Madeleines, die Gedächtnis-Katalysatoren Prousts, aus den
Madeleines der Bulucz’sche gesalzene Kukuruz und die Wassermelonen,
einerseits
„Eine Art verschränktes Erinnern, wie die zum Gebet
gefalteten Hände …“
andererseits
„Wie eine irreparable Verkalkung
von Gefäßen im Hirn, die das Gefühl für Chronologien löscht.
Also stelle ich mir vor, daß es Demenzaugenblicke sind. …“
Im Gespräch mit Joshua Schößler (FR
06.03.2019) kommentierte Bulucz:
„Ich versuche dort lediglich, ein Ideal zu formulieren, wie ich am
liebsten immer dichten würde. Nicht jedes Gedicht schreibt vom Ende her,
aber unterschwellig ist es immer eine Auseinandersetzung mit der
Sterblichkeit. In Bezug auf das Gedicht „Stundenholz“ sind es
verstorbene Menschen, die ich herbeizitiere: Rose Ausländer und Gertrude
Stein. Dort geht es um die Identität.“
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Ja, es gibt auch Gedichte in diesem Band, die Unmut und Empörung äußern. Da wehrt der Poet sich gegen Zumutungen, macht sich lustig über die Beamten im künstlerischen Umfeld oder fordert Freunde und Kollegen heraus – virtuose Zwischenspiele in der Arbeit am Drama der Erinnerung, eine Erinnerung, die stets noch andere Erinnerungsschichten unter sich entbergen oder verbergen. Selbst – oder gerade – in den kunstvollen Verschränkungen der kurzen Form teilt sich die Erfahrung des Schreibenden dem Lesenden mit:
Alles, selbst das Vergessen,
erinnerte an die Form des Erinnerns,
läge zwischen gestern und
morgen Tau,
hülfe ein Rückzug in die
als was auch immer
bezeichnete Mitte des Schweigens,
zwischen gestern und
morgen läge Tau.
Vielleicht liegst du richtig.
In: A. Bulucz, Aus sein auf uns. Lyrik Edition 2000,
Allitera Verlag, Buch&media GmbH, München
2016.
Am Dienstag, 24. Januar 2023 liest Alexandru Bulucz in der Romanfabrik Frankfurt aus seinem noch unveröffentlichten Text „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“, mit dem er 2022 beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb angetreten ist. Seine Lektorin Sabine Baumann vom Schöffling Verlag moderiert den Abend. Und sicherlich gibt es auch Lyrik von Alexandru Bulucz zu hören.