Von 1955 an nannte der Schriftsteller sich Jean Améry. Aufgewachsen im Salzkammergut und in Wien, arbeitete er bis 1938 als Buchhandlungsgehilfe. Er floh im Jahr des „Anschlusses“ nach Belgien, wurde nach dem Einmarsch der Deutschen festgenommen und interniert. 1941 konnte er fliehen, zwei Jahre später verteilte er Flugblätter gegen die Nazis, wurde inhaftiert und gefoltert. Er wurde nach Auschwitz und schließlich ins KZ Bergen-Belsen gebracht, wo er, bis zur Befreiung durch die Briten, überlebte. Seinen Essayband „Der neue Antisemitismus“ hat Jutta Roitsch gelesen.
Es ist ein schmales schmuckloses, weißes Bändchen, das seit Mitte Januar in den Buchhandlungen liegt. In roten Buchstaben leuchten Autor und Titel: Jean Améry, Der neue Antisemitismus. In sieben ausgewählten Essays aus den Jahren 1969 bis 1977 setzt sich dieser wachsame, aber von dunklen Ahnungen getriebene Schriftsteller mit der Auschwitzer KZ-Nummer 172364 mit den linken Studentenbewegungen auseinander: Die einstige Unterstützung in der deutschen Linken für die jüdischen Überlebenden und eine neue sozialistische Gesellschaft im 1948 ausgerufenen Staat Israel kippt 1969 zugunsten der (bewaffneten) palästinensischen Befreiungsbewegungen und begründet einen militanten Antizionismus. Für den linken Intellektuellen Jean Améry ist es ein Antisemitismus in neuem Gewand.
Sein scharfer Blick erhellt, was sich im Jahr 1969 verschoben
hat: Er sieht den Bruch der internationalen sozialistischen Linken mit
dem Staat der Juden und analysiert schonungslos, was das für ihn (als
Juden in der Diaspora) bedeutet. Die Ursachen für diesen Bruch streift
Améry nur. Auf Beides ist einzugehen, um die verhärteten politischen wie
intellektuellen Auseinandersetzungen ein halbes Jahrhundert danach zu
begreifen: Das gilt für den heute wieder neu genannten Antisemitismus,
den postkolonialen Furor, den Terrorismus der Hamas, den Linke wie der
Franzose Jean-Luc Mélenchon von den Unbeugsamen legitimen
Widerstandkampf nennen, und die „Israelkritik“, eine Wortkombination mit
Alleinstellungsmerkmal, da es nicht einmal eine „Nordkoreakritik“
gibt.
Und es geht darum, die Bedeutung dieses kleinen Bandes zu würdigen, den
Irene Heidelberger-Leonard, die 80jährige Betreuerin der Werkausgabe
Amérys, nach dem 7. Oktober schnell ohne Fußnoten oder Quellenangaben
zusammengestellt hat.
Der Ton, den Jean Améry in dem wichtigsten Text des Bandes,
„Die Linke und der ‚Zionismus‘“ aus dem Jahr 1969, anschlägt, schwankt
zwischen Enttäuschung und verzweifeltem Werben um Einsicht. Die Neue
Linke, so begründet er die Anführungszeichen im Wort Zionismus, habe es
verstanden, „den Begriff Zionismus zu ent-definieren“. Diese Linke
verstehe darunter „ungefähr das, was man so vor rund dreißig Jahren in
Deutschland das ,Weltjudentum‘ genannt hat“. Linker Purismus und linker
Eifer sähen Israel „als den Aggressor und Oppressor, als den
Waffenträger westlicher, beziehungsweise amerikanischer
imperialistischer Unterdrückung“. Das Israel-Bild dieser neuen Linken,
die „etwa zwischen achtzehn und achtundzwanzig sind“, sei gekennzeichnet
„durch die häßlichen Züge militaristischer, so nicht faschistischer
Gewalttätigkeit“. Ihre Sympathien wendeten sich den „verschiedenen
arabischen Freikorps zu, vor allem der El Fatah, die für sie, die Linke,
das zugleich eherne und verklärte Antlitz des Widerstandskämpfers
trägt“. Wie konnte es dahin kommen, fragt sich Améry in diesem Essay,
der in der „Tribüne“ (32/69) erschienen ist, der Zeitschrift zum
Verständnis des Judentums (1962 bis 2012).
Eine Antwort findet Améry in „der Tragödie der israelischen
Aggressionen. Sie abzuleugnen ist barer Unsinn“. Zwei Jahre nach dem
Sieben-Tage-Krieg, nach dem Israel das ehemalige britische Mandatsgebiet
Palästina (Gaza, Sinai und Cisjordanien) praktisch besetzte und massiv
mit der Besiedlung begann, spiele das Land „die Rolle des Besatzers mit
allen Implikationen dieses Begriffs“. Doch sei die Frage nicht
unerlaubt, ob Israel anderes hätte tun können, schreibt Améry und fügt
hinzu: „Darum freilich kümmert sich die Neue Linke nicht.“ Ein für
allemal gelte „in erschreckender Vereinfachung“: Hier die israelischen
Unterdrücker, da der arabische Freiheitskämpfer. Der
nationalrevolutionäre Aufstand von Algerien über Kuba bis zu Ho Chi Mins
Vietnam gehöre „zum eisernen Bestand junglinken Denkens oder
Nichtdenkens“. Den palästinensischen Untergrundkämpfern, damals
„Fedayin“ genannt, spricht Améry nicht die Legitimität ab. Sie kämpften
für ihre territorialen Rechte. Den Israelis aber gehe es in ihrem
nationalen Freiheitskampf „ums bare Überleben“ und „darüber hinaus um
die Erhaltung eines Schutzbunkers für Juden außerhalb Israels, die in
den fortgeschrittenen Ländern gerade eben noch toleriert werden und in
den arabischen Staaten schon längst auf dramatische Weise untergegangen
wären, hätten sie sich nicht nach Israel retten können“. Améry spielt
mit diesem Hinweis auf die rund 850 000 Juden von Marokko bis Bagdad an,
die nach 1948 ausgewiesen oder zur Flucht nach Israel gezwungen wurden:
Es sind die sephardischen (arabisch-orientalischen) Juden, unter den
überwiegend osteuropäischen Aschkenazim in Israels Gründungszeiten lange
eine wenig gelittene Minderheit. Heute bilden die „Mizrachim“ die
Mehrheit in der israelischen Gesellschaft.
Vor einem halben Jahrhundert aber bittet Jean Améry die jungen Neulinken „nicht durch undurchdachten Anti-Israelismus Öl ins Feuer zu gießen“ und um ein Minimum an gutem Willen und Gerechtigkeitssinn im politischen Urteil. Eine Warnung allerdings fügt er hinzu: „Der gefährliche Boden, auf dem die Junglinke sich in ihrem antizionistischen Furor bewegt, enthält die Keime eines jahrhundertealten, noch keineswegs ,bewältigten‘ Antisemitismus.“ So verlangt er ein „Quentchen gesunden Menschenverstand“.
Dieses Quentchen aber vermisst Jean Améry in den späteren
Essays „Juden, Linke – linke Juden“ aus dem Jahr 1973 (ebenfalls in der
„Tribüne“, 46/73) oder „Der neue Antisemitismus“, den er zwei Jahre vor
seinem Freitod im Jahr 1978 schrieb. Immer wieder kreist dieser 1912 in
Wien geborene, von einer christlichen Mutter katholisch erzogene
Intellektuelle um sein Judesein, den alten (rechten) Antisemitismus und
den linken Antizionismus. Sein Ton in den Essays nach 1969 wird
schärfer. So stellt er sieben Jahre später fest: „Man darf rufen:
,Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot‘ – und kann
verschweigen oder sogar empört die Insinuation zurückweisen, daß in
diesem Kampfruf ein anderer, nur allzu bekannter mitschwinge: das ganz
eindeutige ‚Jude verrecke‘ der Nazis“( in: „Der neue Antisemitimus“,
1976). Der Kampfruf stammte von linksextremen Studenten der Universität
Kiel, die 1933 eine Hochburg des Nationalsozialistischen Studentenbundes
war und in der die ersten Professoren von ihren Lehrstühlen gestoßen
wurden.
Warum aber suchte Améry 1969 die Auseinandersetzung mit der
studentischen Linken, die damals noch nicht völlig zerfallen war in
kommunistische Bünde der Leninisten, Maoisten, Altstalinisten,
Trotzkisten? Und warum ist das Wiederlesen seiner Texte gerade jetzt
dringlich? Für heutige Leserinnen und Leser rührte Jean Améry in seinem
ersten Essay an ein immer noch wenig erhelltes Kapitel der deutschen
Nachkriegsgeschichte, in der Bundesrepublik wie in der damaligen
DDR: 1969 entlässt sich die seit
fünf Jahren bestehende Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aus der „Vormundschaft“ des
ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, dessen Armee den
Sechs-Tage-Krieg verloren hatte, und organisiert sich unter der Führung
von Jassir Arafat, damals Abu Amar genannt, neu als eigenständige
Befreiungsorganisation gegen Israel: das Vorbild ist der algerische
Befreiungskampf gegen die Kolonialmacht Frankreich, der 1962 mit der
Unabhängigkeit und der Vertreibung der Algerienfranzosen („pieds noir“)
endete.
Am 4. Februar 1969 wird Arafat zum neuen Vorsitzenden der PLO und dem Palästinensischen Nationalrat nebst Zentralkomitee gewählt. Seine finanzstarke Al Fatah ist damals die größte Organisation der Palästinenser. In der jordanischen Hauptstadt Amman baut sie auf einem der Hügel und neben einem Flüchtlingslager das militante „Oberkommando für den bewaffneten Kampf“ auf, in dem Arafat im Tarnanzug mit eigenwillig geschlungenem Kopftuch (später als Palästinensertuch in Mode gekommen) und umgeben von schwer bewaffneten Bodyguards aus- und einzugehen beginnt: Es entsteht ein Staat im Staat, zeitweilig gelitten vom jordanischen König, misstrauisch beobachtet und immer wieder blutig bekämpft von seiner Armee und dem Geheimdienst.
Von Amman aus beginnt in diesem Jahr die palästinensische
Außenpolitik der Fatah und der internationale Aktivismus (durch
Flugzeugentführungen) der sozialrevolutionären Bewegungen „Volksfront“
unter George Habbasch und „Demokratische Volksfront“ unter Naef
Hawatmeh. Um Anerkennung und weltweite Unterstützung wirbt der
„Palästinensische Rote Halbmond“ und bekommt im Internationalen Roten
Kreuz schnell einen Beobachterstatus. In Bonn erhält Abdallah Frangi,
Medizin- und Politikstudent an der Frankfurter Universität und enger
Weggefährte Arafats, eine erste diplomatische Anerkennung mit einem Büro
bei der Arabischen Liga. Die DDR
erhebt die PLO in den
Botschaftsrang und rollt Arafat in Staatsempfängen den roten Teppich
aus. An den westdeutschen Universitäten formieren sich
„Palästina-Komitees“ und die Generalunion palästinensischer Studenten
(GUPS), die nach dem
Olympia-Attentat auf israelische Sportler in München verboten
wurde.
Die Aktivitäten zahlen sich für die Palästinenser aus: in den
Sommermonaten der Jahre 1969 und 1970 kommt es aus Europa zu einem
regelrechten Revolutionstourismus in die Wüstencamps der „Volksfront“
und der Fatah: Mit der Kalaschnikow im Arm robben nicht nur Studentinnen
und Studenten unter dem Stacheldrahtzaun und üben den Untergrundkampf.
Der bekannteste Revolutionstourist heißt Horst Mahler, damals linker
Anwalt aus West-Berlin.
Das „Oberkommando“ wie der Revolutionstourismus fanden 1970 im „Schwarzen September“ ein jähes und blutiges Ende. Die jordanische Armee vertrieb die Befreiungsbewegungen nach Beirut, Damaskus und Libyen, tötete Tausende von „Fedayin“ (zwischen 3000 und 5000). An der internationalen Beachtung und Unterstützung der PLO mit Geld und Waffen änderte der „Schwarze September“ allerdings wenig. Im Gegenteil: Die europäische Linke und Linksextreme blieben unerschütterlich an der Seite der palästinensischen Kämpfer gegen die zionistisch-imperialistische Aggression. Die kommunistischen Blätter vom „Roten Morgen“ bis zum „Arbeiterkampf“, von der „Kommunistischen Volkszeitung“ bis zum „Neuen Deutschland“ pflegen in den 1970er Jahren den Revolutionsmythos „free palestine from the river to the sea“, mit dem der jüdische Staat Israel hinweggefegt wird. In der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ veröffentlichte Henryk M. Broder 1976 seine zweijährige Recherche über die Israel- und Nahost-Berichterstattung der linken und linksextremen Presse in der Bundesrepublik. Und fand zum Beispiel in der „Roten Fahne“ diese Sätze: „Die Wirklichkeit des Klassenkampfs wird die reaktionäre Ideologie des Zionismus zerschlagen, nach der die jüdischen Menschen in aller Welt angeblich die Mission hätten, einen besonderen jüdischen Staat aufzubauen. Auf dem Gebiet von Palästina werden nach der Sturz des Zionismus Araber und Juden gemeinsam ein blühendes demokratisches Palästina errichten“ (1973). Es ist das Jahr, in dem Arafat im Kampfanzug vor der UN-Vollversammlung eine Rede gegen den imperialistischen und kolonialistischen Zionistenstaat hält und begeistert gefeiert wird (am 13. November 1974).
Jean Améry sind die Texte der westdeutschen Linken nicht
verborgen geblieben, und er hat die Haltung, die aus ihnen spricht,
ernst genommen. So erteilt er, der erklärte Diaspora-Jude, der mit
seiner jüdischen Identität kämpft und sich von der europäischen Linken
hoffnungslos verraten fühlt, den Juden in Israel einen Rat: „Erkennt,
dass eure Freiheit nicht gegen den palästinensischen Vetter errungen
werden kann, nur mit ihm – und möge dieser auch zur Stunde noch von
Freiheit nichts wissen und euch in wildem Rachedurst an die Kehle
wollen“ (in der „Zeit“, 1977).
Ein halbes Jahrhundert später, nach weiteren Kriegen, vergeblichen
Friedensbestrebungen, politischen Morden, aggressivem jüdischem
Besiedeln des Westjordanlandes, fundamentalistischen Gotteskriegern auf
allen Seiten und dem grausigen Terrorakt der Hamas am 7. Oktober, teilt
der siebzigjährige David Grossman, der wohl bedeutendste Schriftsteller
Israels, diesen Rat. Er kämpft seit Jahren für ein Ende der Besatzung
und für einen israelischen und einen palästinensischen Staat, weil beide
Völker keine „politische Einheit bilden können“, sagte er in diesen
Tagen und fügte hinzu: „Tatsächlich vertraue ich den Aussagen der Hamas.
Sie meinen, was sie sagen. Sie erklären offen, dass Israel ausgelöscht
werden sollte. Sie haben am 7. Oktober damit begonnen. Deshalb müssen
wir sie ernst nehmen. Wenn wir eine Zukunft haben wollen, ist es
unvermeidlich, Vereinbarungen mit ihnen zu treffen“ (in „Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung“ vom 26. Januar). Bislang verhallen die
Ratschläge von damals und heute. In und vor deutschen Hörsälen oder
Museumshallen gellen wieder Kampfrufe wie „Zionisten sind Faschisten“.
Kapitel um Kapitel setzt sich die Tragödie im Nahen Osten fort.
Die Autorin war als Redakteurin der „Frankfurter Rundschau“
vor ihrem Wechsel in die Innen- und Bildungspolitik (1971 bis 2002) von
1968 bis 1971 in der Nachrichtenredaktion für Nahost
zuständig.