Dass Alban Nikolai Herbsts Roman „In New York“ aus dem Jahr 2000 im Klappentext angab, dieses sei kein Reiseführer, nun, in der Neufassung, einschränkt, er lasse sich als Reiseführer aber verwenden, gehört zum literarischen Spiel des Verfassers, der gerne in die präzise beschriebene Realität abenteuerliche Phantastik verwebt. Ute Stefanie Strasser hat die Neufassung des Manhattan Romans begeistert.
Wilfried Talisker, in Ghent erfunden, wie dies der Erzähler gleich eingangs anmerkt, lebt als braver Rechtsanwalt – in Frankfurt oder Berlin? – mit Karin und Kindern, bis Traumgesichte in seinen Alltag einbrechen, die ihn hinüber nach New York beordern, um dort einen Koffer, eine Pistole und einen ihm jetzt noch unbekannten, wenn auch schon dunkel geahnten, Auftrag entgegenzunehmen.
In New York erwartet ihn der Erzähler, der nun als Georg
Meissen zum Ich-Erzähler wird. Fortan laufen Meissen und Talisker
zeitlich und/oder örtlich schräg versetzt durch Manhattan und begegnen
anderen vom Erzähler kreierten Figuren. Indem wir Leser sie auf ihren
Wegen begleiten (am besten mit einem Stadtplan zur Hand), werden uns die
Augen geöffnet für ein fantastisches und doch authentisches New York.
In einer originellen und hochpoetischen Sprache, bei der einem immer
wieder der Atem stockt vor Staunen und Bewunderung, wird uns die
großartige Lebendigkeit und Fülle dieser Stadt präsentiert – Bauwerke
Bauruinen Baustellen, Prunk und Verfall, Straßenszenen und Passanten,
wie etwa die Frau mit dem Modegefühl englischer Ahnen: grüner Rock,
violettes Damenjackett, rosa Aktentasche. Kleine bunte Bilder (nach
Fotografien des Autors) mit Ausschnitten aus der Stadtlandschaft sind
kaleidoskopartig in den Text eingestreut – Ach ja, ach da!: das Haus.
(S.104) Das Haus, in dem der Maestro wohnt.
Wollen sich Meissen und Talisker treffen, oder doch lieber nicht?
Treffen sich ja am Ende – wir schauten uns giftig in die Augen – mit
nachhaltiger Konsequenz. Davor aber passiert noch vieles: Meissen
beobachtet Talisker, Talisker sucht seinen „Auftraggeber“. Meissen
bekommt den für Talisker bestimmten Koffer aufgedrängt, und Talisker
bekommt Besuch von – nun ja, Gianni Duschkin nennt er sich bei diesem
Auftritt, und er kommt, um Talisker zu verraten, wo der Koffer mit der
Pistole und den Bildern der auserkorenen Opfer zu holen ist, damit er,
Talisker, endlich böse werden kann. Und warum muss er das? Ist doch
klar: mit einem biederen Deutschen auf Geschäftsreise oder
Sightseeing-Tour lässt sich keine gute New Yorker Story machen.
Talisker begibt sich also während der Abwesenheit Meissens in dessen Hotelzimmer und entwendet, was er braucht, um zwei Menschen ins Jenseits zu befördern, zwei gute Menschen. Den einen mag der Tod erlösen, aber wie steht es mit dem anderen?
Als ich das Buch zum zweiten Mal las – das musste ich tun, denn
beim ersten Mal war ich so neugierig gewesen, hatte viel zu schnell
gelesen, Unmengen von Details waren mir entschlüpft – als ich also den
Text zum zweiten Mal las, kam ich irgendwann an eine Mauer, mochte nicht
weiterlesen. Warum? Ich wollte nicht, dass der Maestro stirbt. Das war
freilich keine Lösung! Ich musste weiter, ich musste da durch und mir
eine tröstliche Lesart basteln.
In etwa so: Wer New York fassen will, muss das Gute und das Böse
zusammenbringen. Das gelingt bei Martha, der dunklen Königin, die
distanziert über den Geschehnissen steht und beides beherrscht: das Gute
und das Böse – das Gute den Guten, das Böse den Bösen. Talisker aber?
Vom Bösen verführt, tut er Böses den Guten.
Thimble rettet er damit ziemlich sicher vor einem schlechten Leben. Hier bewirkt er, indem er Böses tut, Gutes; man könnte sagen, der Schuss geht nach hinten los; oder, Goethe schlampig zitiert: Talisker ist ein Teil der Kraft, die Böses tut und Gutes schafft. Und das, behaupte ich, gilt in gewisser Weise auch für seinen heimtückischen Mord am Maestro. Denn sagte nicht dieser rauchende Gianni Duschkin, dass der Maestro sterben müsse, um sein Konzert zu verhindern? Aber da hat er sich – haha – recht gründlich vertan! Talisker tötet zwar des Maestros Körper, die Kraft seines Geistes aber erweist sich als unzerstörbar und entfaltet sich nun in einem großartigen und tief berührenden Konzertereignis.
Ein unabgerissener Menschenstrom wälzt sich von oben nach unten, Tausende aller Gesellschaftsschichten aus ganz New York strömen durch Bahn- und Kanalisationstunnel, die Welt der Mole-People, hinab. Über eine Dreiviertelstunde bereits währte der Weg, als sich riesig eine Grotte von Kathedralenhöhe auftat, die New Carnegie Under Manhattan, Teil eines Projekts des Architekten Idahoe Neill für eine Stadt unter der Stadt, auf dass ein Gleichgewicht zwischen oben und unten hergestellt werde. Dort nehmen sie Platz und sitzen in atemloser Spannung. Auf der Bühne unten, eine Art Vorprogramm, bekannte Jazzer, Trompete und Schlagzeug. Und nach und nach erscheinen die Obdachlosen in ihren abgerissenen Kleidern mit ihren Instrumenten, das Pluto Symphony Ensemble, und warten auf ihren Dirigenten, auf Maestro Olsen-Chopstick. Vergeblich. Es war ihm etwas zugestoßen. So beginnen sie trotz seiner körperlichen Abwesenheit zu spielen, ihm zur Ehre, angeführt von der Kraft seines Geistes. Und? Ein grandioses musikalisches Feuerwerk explodiert in dieser Unterwelt, ein himmlisches Lebensfest im Hades. Dann stillste Stille. Niemand bemerkte, dass das Konzert vorbei war … Alle saßen und saßen … Nur langsam wurden die Musiker wach … Bitte – jetzt bitte – keinen Applaus!
Die Schilderung dieses Konzertes – auch oben in der Stadt konnte man es schmecken, dass etwas Besonders geschieht – halte ich für Höhepunkt des Romans, eine den gesamten Text überstrahlende Passage. Was wir hier erleben, ist die Auferstehung des Fleisches in der Musik. Man weinte im Publikum, und auch ich war zu Tränen überwältigt.
In diesem Text stecken freilich noch viele andere ineinander
verzahnte spannende Geschichten, zum Beispiel die des Architekten Idahoe
Neill, der nicht sterben musste; oder die von der oben schon erwähnten
Begegnung zwischen Meissen, und Talisker, die dazu führt, dass Meissen,
der Ich-Erzähler, auf Taliskers Kommando von Jugendlichen
niedergeschlagen, sein Gedächtnis verliert und sich, nun verletzt und
verdreckt, auf dem Weg zum Konzert das Innenleben des Obdachlosen Sky
anverwandelt, wovon uns der Erzähler Bericht erstattet; die
Ich-Erzähler-Rolle übernimmt Talisker. Multiperspektivisches Erzählen
heißt das wohl in der Fachsprache, und man muss beim Lesen sehr
aufpassen, hier nichts zu verpassen – ein Aufmerksamkeitstraining! – und
sich nicht verwirren lassen, wenn einer an seinem Schreibtisch sitzt,
über den grad ein anderer mit dem Zug nach Manhattan hineinfährt
(S.10)
Und welche Geschichte geleitet uns am Ende hinaus? Nach Lissys
tragikomischem Geständnis öffnet uns Talisker mit einem brüllenden
Lachen über den Wahnwitz seiner Welt die Ausgangstür – EXIT.
Ich bin nicht in der Lage, diesen Roman mit all seinen Anspielungen und Verästelungen zu erfassen, die Dichte der Geschehnisse ist enorm, erinnert mich an Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, manches blieb mir verschleiert. Aber klar wurde mir wieder einmal, dass Alban Nikolai Herbst einer der originellsten, kreativsten, produktivsten sowieso, zeitgenössischen Schriftsteller im deutschen Sprachraum ist. Und obwohl es sich bei diesem Roman um eine nach zwanzig Jahren überarbeitete Neuauflage handelt, hat der Text nichts an Aktualität verloren – ein Kennzeichen guter Literatur.
P.S.: Wie der Autor im Abspann des Buches bemerkt, kann man es auch als Reiseführer durch New York verwenden. Nehmen Sie ihn ins Gepäck, falls Sie wieder einmal hinfliegen!