Der Glaube und das blinde, taube, lahme und stumme Vertrauen wollten und konnten wohl alle Zweifel an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen überblenden. So wurde mit der Feldpost die unglaubliche kindliche Hoffnung in eine Idylle in die Heimat übermittelt, die, wenn alles vorbei wäre, sich einstellen musste. Die „Briefe an Mimi“, die Peter Giacomuzzi literarisch flankiert, lässt Alban Nikolai Herbst schaudern.
die welt sind meine sinne.
alles andere ist religion.
Peter Giacomuzzi
Ein Schuhschachtelfund, von dem lange nicht gewußt wurde, was anfangen
mit ihm: in der ein-zimmer-wohnung mit möbeln aus den 50er
jahren. und das foto von dem soldaten auf dem fernseher. das war der
toni. (…) und die schuhschachtel voll von briefen”,
die aber doch ein Recht haben, ihre Intimität zu bewahren! Mit denen
hebt es gleichwohl an, dieses ungewöhnliche Buch, und es hat
lange gedauert, so lange dieses ungute gefühl, in einem leben zu wühlen
und dabei in linien (…) des menschseins
hineinzustoßen.
Aber wir schreiben geschichte. wir schreiben geschichten. Die geschichten liegen überall offen und versteckt. die augen der kinder sind flink und wach und finden sie auch noch im traum. rette dich, es geht um dein leben! Sieh dich nicht um und bleib im ganzen umkreis nicht stehen. (…) so wiederholen wir uns selbst, schauen nicht zurück, glauben, nach vorn zu gehen und bleiben am selben punkt wie die maus im rad.(…) wir wissen alles im moment und vergessen es im selben augenblick wieder.
So ist, die Briefe zu verwenden, eine politische, vor allem aber poetische geradezu P f l i c h t, die Giacomuzzi auf sich nimmt, zwar bleibend mit einem etwas schlechten Gewissen, das sich in unversehenen fast Momenten der Wut ausdrückt: und weil wir nicht weiterkommen, und weil wir es nicht erklären können, machen jene profit, die mit einfachen lösungen kommen. (…) weil nur glauben gefragt ist. blindes, taubes, lahmes und stummes vertrauen. Weil mit dem guten Gewissen aber zugleich, dem nämlich besseren, uns, seinen Leserinnen und Lesern, die unheimliche Kontinuität unserer Verhältnisse zu historischen wie gegenwärtigen Geschehen deutlich zu machen, haben selbst Giacomuzzis bisweilige Ausfälligkeiten gegen die digitalisierte Welt und deren manipulative Bedrohungen durch ihre neuen Medien noch da ihr Recht, wo sie vielleicht ein bißchen tendenziös pauschal sind. Zumal das erschütternde an den nachgelassenen, zwischen 1938 und 1944 geschriebenen Liebesbriefen des Obergefreiten der Deutschen Wehrmacht, Anton Schöch, an seine über bis fast an sein höchstwahrscheinliches – er ging an der Front verloren – Ende immer noch nur „Freundin‟ und erst kurz vorm „Fallen‟ wirklich Gemahlin… – zumal an ihnen das eigentlich Erschütternde ist, wie sie uns vorführen, auf welche Weise Verdrängung selbst noch im härtesten Krieg unter Artilleriefeuer … ja, furchtbares Wort, „funktioniert‟. Denn von dem ist – an der Ostfront stehend – kaum etwas erzählt; die meisten dieser Briefe hätten auch in Friedenszeiten von jemandem geschrieben sein können, den irgendein sonstiges Geschick von der Geliebten getrennt hat, sagen wir den Ölbohringenieur auf einer fernen Ölbohrinsel. Erst als der Tod sich vielleicht doch erahnt, erfahren wir – erfährt die Frau – ein kleines bißchen was vom Krieg. Als wär der Nebensache, geht es vor allem um Kleinbürgereien, Eifersucht, spätre Wohnungssuche, Urlaube im Kuschelhütterl usw. Als wäre der ganze Nationalsozialismus nicht da, hätte es nicht die Pogrome gegen die jüdischen Mitbürger und ihre für jede und jeden sichtbare Verschleppung gegeben, als wäre alles dieses Normalität und es gehe darum allein, jeweils die eigene Familie von dieser für sie neuen Liebe zu überzeugen und also, daß geheiratet werden müsse.
„Liebes Weible‟, schreibt Toni, „Liebes Weibi‟, „Liebste
Minimaus‟ – die Diminutive finden kein Ende („Hast Du Dein Öfele schon
in Betrieb?‟) und zeigen verniedlichend schmerzhaft, und eben darin hart
skandalös, ein Geschlechterverhältnis, vor dem uns lange nachher noch
angst und bange wird. „Liebe kleine Mimi Maus und liebes kleines
schwarzes Schatzi-Putzi, sei recht viel tausendmal gegrüßt und geküßt
von Deinem, wegen dem Verlust Deiner Bilder, so traurigen Bibi.‟
Das alles wär recht unerträglich, vor allem, weil der Briefeschreiber
Akademiker ist, „nur‟ Naturwissenschaftler zwar, aber doch gerade als
solcher ein Mensch, der, ging’s mit rechten Dingen zu, imstande sein
müßte, aus den Folgen Gründe zu erschließen. Ist er aber nicht. „Nun
habe ich mein ganzes Denken und mein ganzes Herz verraten (…)‟. So daß
sich von einem weltblind-verkitschten, quälend banalen Spezialistentum
sprechen ließe, das sich permanent, so auch am 11.5.39, „mit der
Hoffnung auf bessere Zeiten getröstet‟ fühlt. So auch die Schlager
Komm mit mir ins Separee, Glücklich ist, wer vergißt, was doch
nicht zu ändern ist. Genauso geht Verdrängung. Wir lesen
dennoch weiter, und zwar mit Spannung. Was an Giacomuzzis
dazwischengeschobenen und nicht nur durch eine andere Type, sondern vor
allem vermittels der durchgehaltenen Kleinschreibung abgesetzten
poetischen Kommentare liegt, die allem eine Struktur geben, die uns
erkennen läßt, indem hier zwei gegenläufige
Haltungen erhellen, welches Drama sich e i g e n t l i c h abspielt und
einfach, einfach weitergeht: und die erwachsenen freuten sich,
wenn wir kinder ihre Lieder mitsingen konnten. so wurden wir zu
teilnazikindern. obwohl der krieg schon lange vorbei war.
Oder zum Wartheland: der exerzierplatz des mordens
hatte einen namen. wir haben ihn weggelöscht. Sowie um
priesterlichen Mißbrauch: und in rom die kardinal*innen tanzen
im gruftischritt durch den dom. die knäbelein aber singen „wenn ich ein
vöglein wär‟ und alle bekommen nasse augen, (…) so zart, so gefühlvoll,
so himmlisch die ton und die leitern auf und ab. Dieses
stets in Giacomuzzis lyrischer, aber b e t e i l i g t e r Prosa, die
auf die dunklen Briefe Schöchs, die so tun, als wärn sie hell, einen
derart hellen Schatten wirft, daß es grell wird: ich hab dein
bild im krieg verloren. ich habe dich im krieg verloren. wir haben dann
den krieg verloren.
So etwas macht Gänsehaut. Was Giacomuzzis, je weiter das Buch
voranschreitet, fast zynisch werdende Kommentare – so brave
soldaten. und damit sie beim töten nicht gleich ganz kaputt sind und
schon vor der schießerei zur mama laufen, gibt’s auch heute noch
hochkarätiges, oder auch pillen und andere pülverchen (…) den
Schnee durch die nase ziehen, bis die ohren zu segeln
beginnen – … – was sie also erzähldramaturgisch mehr als nur
rechtfertigt, sind die außerdem dokumentarischen Einschübe aus
Ortserklärungen, Zitaten usw., die meist grau unterlegt sind und als
Kästchen den gesamten Romantext quasi erden:

Zugleich erzählt dieses Buch – es ist dessen in Giacomuzzis eigener Biografie verankerte ideengeschichtliche Basis, – auch die Geschichte, eine Teilgeschichte, Südtirols – die dolomiten (…) sind der in fels gehauene ethnische konflikt –, die einer vor Verlorenheit dauererzitternden, eigentlich nichtnationalen Identität – vielmehr ist es die alleine einer Landschaft –, die sich in die Brust werfen muß, um sich vermeintlich zu halten, weiße Mulatten einer mit Scheinstolz apart gehaltenen Zweiundeinachtelsprachigkeit: vielleicht war ich immer dort zuhause, wo ich im moment nicht sein konnte. die heimat ist der zufluchtsort der sehnsüchte, und zwar entsetzlicherweise bis in die internalisierte Beschwörung von Klischées: die schweiz ist eine frau und hortet das geld alles bösen auf der welt im schoko-toblerone-fels des matterhorns.
In den Enddreißigern, beginnenden Vierzigerjahren des leider eben nicht
vergangenen Jahrhunderts mußte sie sich, diese fragile Identität, an die
asthenische Trichterbrust „des Führers‟ werfen, der indes bei Toni nur
quasi-touristisch auftaucht, nämlich am 19. März 1940: „Gestern sah ich
den Führer, als er vom Brenner zurückgefahren ist. Es ist dies nun das
zweite Mal im Leben, daß ich ihn gesehen habe; dabei bin ich naß bis auf
die Haut geworden, aber sehen habe ich ihn müssen‟, den kleinen
bellenden GröFaZ. Und Toni bleibt affirmativ, bis in den Schützengraben
imgrunde nicht mal regrediert, sondern ein beim Lallen schon
stehengebliebenes Kind, dem der „Landesvater‟ selbst dann ein Gott, wenn
er ein Völkermörder ist.
Kurz, ein unreifer Mensch, in dessen Briefen die später reihenweise
fallenden Kameraden kaum mal im Nebensatz vorkommen. Das Unglück ist ein
Regen, der halt hinzunehmen ist; lächerlich, wer gegen Natur
revoltiert. Im Krieg wird gestorben und verstümmelt, im Regen wird man
naß. „Gelt, mein liebstes Weibi, das wäre halt schön, da hätten wir es
schön, freue mich im Grunde schon darauf‟, lauten die letzten Zeilen,
die Anton Schöch geschrieben, „aber zu früh darf man sich halt
heutzutage doch nie freuen, denn es kann sich plötzlich wieder etwas
ändern.‟ Zum Beispiel abermals stürmen und Sturzfluten regnen. „Wenn Du,
mein liebstes Weibi, fest den Daumen haltest wird es schon gehen, denn
bis dahin habe ich auch schon drei Jahre Dienstzeit voll.‟ –
Hingeschrieben in der Ukraine, damals noch Sowjetunion, nahe
Nowosserhijiwka, bevor er von der Truppe abkam und verscholl. Derart
auch aktuell ist dieses gespenstische Buch. „Recht viele tausende heiße
und innige Bussi von Deinem Toni‟ – wobei Giacomuzzi die letzten
vierzehn Brief nicht mehr kommentiert, was dem Ende des Buchs den
Charakter einer Stretta verleiht, der sich zu entziehen fast nicht mehr
geht. Wir nämlich spüren tatsächlich schon den Tod; Toni – darin liegt
die tragödische Dramatik – tat es nicht.
Angehängt ist nur noch ein Brief, der einzige, der bisherigen Empfängerin, vielleicht, weil nur er von ihr erhalten ist. Zu unserem Schaudern beschließt ihn Mimi so: „Hermann hat einrücken müssen. Viele 1000 Bussi und Grüße von Deinem Frauchen”.