Die beliebte Gleichsetzung des Kampfes sozialer Klassen mit dem der Schulklassen hat auch im Buchtitel „Klassenkampf“ verfangen, den zwei Journalisten des „Tagesspiegel“ für ihre Bestandsaufnahme verwendeten. Jutta Roitsch sprach mit der Schulpädagogin Marianne Horstkemper über die Streitschrift.
Die Misere im deutschen Schul- und Bildungssystem ist seit über zwanzig Jahren bekannt und benannt: Die kulturelle und soziale Herkunft entscheidet nach wie vor über die Lebenswege und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen. Die wochenlangen Schulschließungen in pandemischen Zeiten haben die Lage verschärft, eine neue Pisa-Studie wird es im kommenden Jahr belegen. Populäre Bücher zum Thema sind rar geworden, obwohl sich namhafte Journalisten um Aufmerksamkeit bemühen. Jetzt sind der Chefredakteur und die bildungspolitische Redakteurin des Berliner „Tagesspiegel“, Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus, mit einem überbordenden Empörungsbuch dazu gestoßen. Der Titel ist reißerisch: „Klassenkampf“. Und der Anspruch hoch, sehr hoch: „Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann“. Die Erregung über diesen vernichtenden Rundumschlag blieb in Politik, Medien und Wissenschaft aus. Über die Gründe und Hintergründe dieser offenkundigen Gewöhnung an Schulskandale, abgehängte Schüler, benachteiligte Migrantenkinder, verwahrloste Schulgebäude und eine frustrierte Lehrerschaft sprach Jutta Roitsch mit Marianne Horstkemper, der ehemaligen Professorin für Schulpädagogik in Potsdam, die in Berlin Schulen wissenschaftlich begleitet und Lehrerkollegien beraten hat.
Braucht es einen solchen reißerischen Titel, um überhaupt noch Aufmerksamkeit für schulpolitisches Versagen zu erlangen?
Ob es überhaupt vernünftig ist, davon auszugehen, dass die empörte Darstellung eines Desasters in allen komplexen Einzelheiten tatsächlich motiviert, daraus zu lernen, wage ich zu bezweifeln. Wesentlich sinnvoller scheint mir eine Strategie, die darauf setzt, aus positiven Ansätzen zu lernen.
Soweit ich die Berliner Schulpolitik in den letzten zehn Jahren verfolgt habe, gibt es wenig, was die Bildungspolitik anderswo in der Republik aus Berlin lernen könnte. Ist das „Desaster“ nicht ein hausgemachtes?
Wieviel daran „hausgemacht“ ist, gibt das AutorInnen-Team sich alle Mühe, in „zehn Stationen des Politikversagens“ auszumalen: Von der „Vertreibung der Lehrkräfte“ über „unheilvollen Zwang zu Reformen“, ruinöse Sparpolitik, aber gleichzeitig auch Ressourcenverschwendung, die Vernachlässigung der Digitalisierung, die Unterdrückung von Vielfalt im Schulwesen, d.h. vor allem eine tiefe Abneigung gegen Freie Schulen, oder die nicht ausreichende Förderung von Brennpunktschulen bis hin zu (fehlendem) „Mut zur Leistung“ und Absenkung von Leistungsanforderungen reicht das Berliner Sündenregister. Ausgebreitet wird es im Teil II des Buches (S. 49-187) wogegen der Teil III (Auswege aus dem Bildungsdesaster) mit deutlich weniger Umfang auskommt (S. 191-244). Er endet mit einem kleinen Trost: „Der Klassenkampf um bessere Schulen ist nicht nur hier hart und schwer. Aber er ist möglich.“ Und das zweieinhalbseitige „Nachwort für Berliner Eltern“ beschränkt sich auf wenige Hinweise wie: Gespräche mit aktiven Eltern zu suchen, Tage der offenen Tür zu nutzen oder die „besonders hilfreichen Berichte der Schulinspektion“ bei der Suche nach einer geeigneten Schule für das eigene Kind heranzuziehen. Spätestens der letztere Ratschlag dürfte den Bedürfnissen eher bildungsferner Eltern vermutlich wenig helfen.
Das Leitmotiv, das in den 250 Seiten des Buches immer wieder durchdringt, lautet: Wir, der „Tagesspiegel“, und namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klären auf, kritisieren in Reportagen, umfangreichen Gutachten oder Kommissionsberichten Missstände, aber die Politik kümmert sich nicht und hört weder auf uns noch die Wissenschaft. Ich selbst war dreißig Jahre lang für die Bildungspolitik in der „Frankfurter Rundschau“ zuständig. Ich kann den Frust des Chefredakteurs und seiner Kollegin gut verstehen. Aber gleichzeitig überschätzen sie doch ihre Rolle, wie das die Hauptstadtkolleginnen und –kollegen gerne tun. Meine Zunft sollte sich nicht so wichtig nehmen als politische Einflüsterin. Interessanter finde ich die Frage zur Wirkung oder Wirkungslosigkeit von wissenschaftlicher Beratung und wissenschaftlichen Qualitätskommissionen. Sie haben große praktische Erfahrung auf diesem Gebiet. Welche Funktion haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Kommissionen und wissenschaftliche Beratung? Gehören auch Sie zu der Gruppe der nicht gehörten Mahnerinnen?
Ich bin nicht sicher, ob es nur eine Spezialität der
Hauptstadtkolleginnen und -kollegen ist, ihren Einfluss so deutlich zu
überschätzen. In der Tat ist man als Wissenschaftlerin, die ihre
Expertise und ihr Reformengagement in Modellversuchen erproben und
daraus Reformvorschläge und nachhaltige Verbesserungen anstoßen möchte,
zuweilen ebenfalls sehr frustriert, wenn das in der Schulrealität nicht
mit Begeisterung aufgenommen oder gar schlicht „ausgesessen“ wird. Die
beiden Sätze: „Das haben wir immer so gemacht!“ oder komplementär „Das
haben wir noch nie so gemacht!“ sind dabei die Klippen, an denen jede
Veränderung scheitern kann. Insofern kann ich den Ärger verstehen, der
hier zu dem Vorwurf führt, der von vielen geschätzte Staatssekretär in
der Bildungsverwaltung bevorzuge die Sicht, es seien vor allem die
Medien, die in Wahrheit alles nur „schlecht reden“.
Im Übrigen kommen mir vor dem Hintergrund ebenfalls recht frustrierender
Erfahrungen mit der Einsetzung von Kommissionen oder die Einholung von
Gutachten durch politische Institutionen gelegentlich Zweifel, ob
dahinter ein echtes Bedürfnis nach Politikberatung steht. Ich halte es
nicht für ausgeschlossen, dass dies zuweilen vor allem eher ein
legitimatorischer Akt ist. Man hat etwas getan! Ob daraus Konsequenzen
gezogen werden, ist damit längst noch nicht gesagt. Die Empfehlungen
können dankend entgegengenommen werden und dann in der Schublade
verschwinden. Die Wissenschaft sollte sich nicht in solcher Weise
funktionalisieren lassen, auch nicht, wenn dies willkommene Honorare
oder zumindest Prestigezuwachs einbringt. Das Geld könnte wesentlich
sinnvoller eingesetzt werden.
Aber für mich ist schon der Buchtitel nicht nachvollziehbar. Worin
besteht der Klassenkampf, „der ausgetragen wird auf dem Rücken der
Schwächsten?“ (S,19). Und gar nicht erkenne ich die „gnadenlose
Konstruktivität,“ die im Klappentext dem Autor*innenteam bescheinigt
wird.
Und wo bleibt im „Klassenkampf“ das Positive“? Im Schlusskapitel werden die Eltern beruhigt, es gäbe in Berlin auch großartige Schulen, man müsse sich nur informieren. Hängt die öffentliche Gewöhnung an die Bildungsmisere damit zusammen, dass Eltern, die „taz“, „FAZ“ oder eben „Tagesspiegel“ lesen, ohnehin wissen, auf welche Schulen sie ihre Kinder schicken oder zu schicken haben? Ist das nicht eine groteske Wendung nach über 200 Seiten Empörung und Verriss?
Ich finde es ein überflüssiges Buch, das zwar zuweilen sogar
positive Praxis beschreibt. die aber immer wieder untergeht in
Zuständigkeitsstreitigkeiten oder behördlicher Überorganisation, in
schlechter Planung oder nicht konsequenter Umsetzung. Immerhin berichtet
Susanne Vieth-Entus* im Berliner Tagesspiegel über die auch in ihrem
Buch als Positivbeispiel genannte, wenngleich aber unter mehr als
widrigen Rahmenbedingungen leidenden Kurt-Schumacher-Grundschule in
Kreuzberg, Diese erhielt soeben beim Bundeswettbewerb „fair@school
– Schulen gegen Diskriminierung“ den ersten Preis für einen
Film, den die Lehrerin Zara Demet Altan gemeinsam mit ihren Schülerinnen
und Schülern gedreht hatte. Mit Methoden des Forum-Theaters nach
Augusto Boal wurden die Kinder, die oft ihre eigenen Fähigkeiten, ihr
Leben selbst in die Hand nehmen zu können, als sehr gering einschätzten,
sensibilisiert für die Verarbeitung ausgrenzender Erfahrungen.
Gleichzeitig entwickelten sie dabei auch Lösungen, wie sie mehr Teilhabe
durchsetzen könnten. Die Überwindung eigener Ohnmacht und die Erfahrung
von Selbstwirksamkeit und Selbststärkung gab ihnen mehr Sicherheit und
erhöhte die Reflexionsfähigkeit. Wichtig war dabei, dass die kollektive
Erarbeitung und Präsentation von Zwischenergebnissen mit ausführlichem
Feedback jedem und jeder den Eindruck vermittelte, die je spezifischen
eigenen Fähigkeiten einzubringen zu können. Und die Präsentation des
Films im Kino vor großem Publikum gab Anlass für viele Gespräche mit
Lehrkräften und Eltern, die nachhaltig die Atmosphäre der Schule
veränderten. All dies hatte die Jury tief beeindruckt.
Schade, dass auch ein solcher Erfolg in den Bereich der Wunder verwiesen
wurde – es wäre vielleicht besser, nicht lediglich einen
neuen PISA-Schock zu fordern,
sondern tatsächlich beherzt konstruktiv zu agieren.
*Der Beitrag im Tagesspiegel stand unter der Überschrift: „Wunder geschehen. An der Kurt-Schumacher-Schule herrscht seit Ende 2012 Ausnahmezustand. Dennoch ist hier ein preisgekrönter Film entstanden“.