Der französische Historiker Bernard Delpal hat über den Ort Dieulefit im Departement Drôme geforscht. Sein Buch über den „Rettungswiderstand eines Dorfes in der Provence während der Nazi-Besatzung“ ist ein historisches Beispiel für kollektive Zivilcourage. Johannes Winter empfiehlt es für den Geschichtsunterricht.
Der Norden Frankreichs mit Paris war von den Deutschen besetzt, den Süden, die sog. „freie Zone“, regierte, bis auch sie im November 1942 okkupiert wurde, das Vichy-Regime, die Kollaborationsregierung des Marschalls Petain. Im Rathaus von Dieulefit waltete Bürgermeister Pierre Pizot seines Amtes, pensionierter Oberst beider Weltkriege und Unterstützer von Petain. In seinem Vorzimmer saß Jeanne Barnier, eine junge Frau von Anfang 20, die Gemeindesekretärin.
Bis zur Befreiung im Herbst 1944 hat sich Jeanne Barnier ewigen Ruhm als Dokumenten-Fälscherin erworben. Handwerklich geschickt, fabrizierte sie rund 1.300 fiktive Dokumente: Pässe, Kleider- und Lebensmittelkarten, Führerscheine oder Geburtsurkunden, mit Pinzette, Gummi und Matrize, unter den Augen ihres Chefs, der sie, wenn sich die Präfektur aus dem nahen Montélimar zur Kontrolle ansagte, in Ur-laub schickte. Aus der Mairie, in der Bürgermeister Pizot, dem seine „freiwillige Blindheit“ half, eine polnische Jüdin als Hausmädchen einzustellen, und seine Sekretärin Barnier, das Beispiel schlechthin für Mut und Menschlichkeit, es sich zur Aufgabe machten, stillschweigend und ohne Aufhebens Menschen in Gefahr zu retten. Wie die Mehrheit des Dorfes.
Mehr als 1.000 Flüchtlinge und Verfolgte fanden Zuflucht in Dieulefit, unter ihnen spanische Republikaner auf der Flucht vor Franco, deutsche Juden auf der Flucht vor Auschwitz, französische Kommunisten auf der Flucht vor Petain, Intellektuelle, Maler und Schriftsteller in Opposition gegen das Vichy-Regime, bedrohte Elsässer, Deserteure und aktive Mitglieder der Résistance.
Wie das sogenannte „Wunder des Schweigens“ – Dieulefit blieb frei von Denunziationen – zustande kam, beschreibt Bernard Delpal im ersten Teil seines Buches, der sich als „Historische Studie“ den lokalen Umständen widmet, die das Verhalten der rund zweieinhalbtausend Einwohner geprägt haben. Er verweist auf hugenottische Traditionen wie Toleranz und Solidarität, auf Netzwerke von Juden und Protestanten als religiöse Minderheiten. Auf die Zivilcourage katholischer Pfarrer, welche jüdischen Kindern gefälschte Taufbescheinigungen ausstellten.
Delpal: Dieulefit zeige, wie eine dörfliche Bevölkerung sich
daran gewöhnte, den Schritt von der Dissidenz zum zivilen Ungehorsam zu
gehen. Wie ein ständiges Hintertreiben der offiziellen „collabo“ zum
Motiv des Handelns wird: „Der Schritt in die Illegalität, zu gemeinsamen
Aktionen mit anderen, zur bewussten Bereitschaft, um höherer Werte
willen Risiken einzugehen: (für) Freiheit, menschliche Würde,
Solidarität, die Nähe zum Anderen, Fürsorge für die Verfolgten.“
Mit einem Wort: wie sich ein ganzes Dorf für eine Handlungsmöglichkeit
entschied, die den Akteuren weder eingeschrieben noch selbstverständlich
war. Im Gegenteil.
In den Worten der Sekretärin Jeanne Barnier: „Es ist schwierig, über
Jahre hinweg legales Handeln beim Ausüben des Berufs einerseits und
illegales Handeln andererseits, Gesetzestreue einerseits und die
Weigerung, Anordnungen zu befolgen, andererseits, miteinander zu
vereinbaren und gegen die alltägliche eigene Angst zu
handeln.“
Ein Strukturelement, das hilfreich war: Dieulefit, ein Kurort für Atemwegserkrankungen, verfügte über Kliniken und Sanatorien, Pensionen und Privatzimmer, es war geprägt von professioneller Gastfreundschaft, und selbst wer keinen Flüchtling beherbergte, hielt sich an das Prinzip der Diskretion. Denn, so Delpal: „Über alle Differenzen hinweg wehrt(e) sich das Gemeinwesen dagegen, die geplante Vernichtung zu akzeptieren, weigerte sich, die Zerstörung der Zivilgesellschaft hinzunehmen.“
Im zweiten Teil des Buches kommen Zeitzeugen zu Wort. Unter
ihnen nicht nur Jeanne Barnier, die wie elf andere Bürgerinnen und
Bürger Dieulefits in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt
wurde. Unter ihnen auch Marguerite Soubeyran und ihre Lebensgefährtin
Catherine Krafft, die Leiterinnen von Beauvallon, einem der
Reformpädagogik verpflichteten Landschulheim, in dem jüdische Kinder
Zuflucht und Rettung fanden, zumal Soubeyran, kommunistisch geprägt, der
bewaffneten Résistance in den nahen Bergen zuarbeitete.
Oder der Nachkriegsbürgermeister Jean Morin, dessen Familie ein von
Deportation bedrohtes jüdisches Kind aufnahm. Oder der Dichter Pierre
Emmanuel, dessen geflügeltes Wort „Dieulefit, wo niemand ein Fremder
ist“ in der Gedenkstätte des Ortes überlebt hat. Nicht vergessen sei der
ins französische Exil geflohene Maler Wols, vom Licht der Provence wie
auch von der Hilfsbereitschaft der Dörfler angezogen, welche ihn vor dem
Absturz in die Verzweiflung bewahrten; ebenso wenig das einstige
Traumpaar der französischen Literatur, Louis Aragon und Elsa Triolet,
das seinen „Dank an die Feen“ von Beauvallon im Goldenen Buch des
Internats hinterließ, für sie alle eine „Oase des Glaubens und der
Hoffnung“, nicht zuletzt für den Schriftsteller Henri-Pierre Roché, der
in Dieulefit seinen berühmten Roman „Jules und Jim“ schrieb, den
François Truffaut Jahre später verfilmen sollte.

Der Schritt von der Dissidenz zum zivilen Ungehorsam