Zwei Bücher sind in diesem Jahr von Stefanie Gregg erschienen; in beiden geht es um seelische Verletzungen, also ums Verletzen und Verletztwerden. Mal wird das Trauma über Generationen hinweg weitergereicht, mal steckt es im eigenen Leben und bringt nicht mehr erklärbare Reaktionen hervor, die destruktiv in jede Beziehung eingreifen. Susanne Konrad sprach mit der Autorin über psychologische Romane und ihre Verlage.
Susanne Konrad:
Liebe Stefanie, nach den Bänden „Nebelkinder“ und „Die Stunde der
Nebelkinder“ ist der dritte und letzte Band, „Die Hoffnung der
Nebelkinder“ im Aufbau-Verlag erschienen. „Nebelkinder“, so erklärst du
es selbst in deiner Danksagung, „so nennt die moderne Psychologie die
Generation der Kriegsenkel, die scheinbar nichts mehr mit dem Krieg zu
tun haben und dennoch so viel auf den Schultern tragen müssen.“ Im Fall
deiner Geschichte ist das Lilith, die Tochter von Ana(stasia), die
ihrerseits als Kind an der Seite ihrer Mutter Käthe aus Breslau geflohen
war. Lilith hat den Zweiten Weltkrieg zwar nicht unmittelbar erlebt,
doch die transgenerationalen Traumata machen auch vor ihrer Seele nicht
halt. Als junge Frau verliebt sie sich in den unsteten Akademiker
Robert, der ihr genauso tiefe Gefühle entgegenbringt, wie sie ihm und
der doch keine konstante Beziehung mit ihr aufbauen kann, weil er selbst
traumatisiert ist: Als Kind wurde er von seinem Vater regelmäßig
geschlagen. Als Lilith Ende Vierzig ist und eine kinderlose Ehe mit
einem Mann namens Tobias hinter sich hat, bittet Robert sie, seinen Sohn
Aaron bei sich aufzunehmen, dessen Patin sie ist und dessen Mutter,
eine frühere Freundin von Lilith, verstorben ist. Dieser Schritt, den
Lilith anfangs nicht gehen will, erweist sich in der Tat als schwierig:
Der dreizehnjährige Aaron ist verschlossen und einsam. Er scheint in
einer anderen Welt zu leben als die in kühlem Chic eingerichtete
Architektin Lilith. Eine gemeinsame USA-Reise von Robert, Lilith und Aaron
bringt einige Klärung, aber ob sie als Familie zueinanderfinden, möchte
ich an dieser Stelle offen lassen.
Liebe Stefanie, ich erlebe deinen Roman als eine explosive
Mischung aus psychologischem Realismus und aus Elementen des
Schicksalsromans mit quasi magischen Fügungen und schicksalhaften
Zusammenhängen. Siehst du das auch so? Ist diese Mischung
beabsichtigt?
Stefanie Gregg: Wie überraschend – „psychologischer Realismus,
Schicksalsroman und quasi magische Fügungen“ – so hätte ich meinen Roman
nie beschrieben. Wenn ich aber darüber nachdenke, hast du wohl
recht.
Mich interessieren in allen meinen Büchern die psychologischen
Hintergründe von Menschen: Was treibt sie an, warum gehen sie welche
Schritte, oft ohne selbst die Gründe zu kennen, wie entwickeln sich
Charaktere und Lebenswege, meist aus einer spezifischen Kindheit heraus.
Und ja, hier versuche ich aufzuzeichnen, was im realen Leben sogar oft
geschieht, ohne dass man sich selbst dessen bewusst ist. „Nebelkinder“
sind die Kriegsenkel, die so viel von den Geheimnissen der Familie in
sich tragen und dies nicht wissen.
Der Schicksalsroman ist jener, bei denen den Figuren etwas geschieht,
das außerhalb ihrer Entscheidungsmöglichkeiten liegt. – Dies ist das
Leben. Dinge geschehen, Familienkonstellationen, historische
Geschehnisse, ein zeitgenössisches Umfeld – das Individuum muss sich
darin zurechtfinden – und jeder reagiert anders auf „sein
Schicksal“.
Schließlich: magische Fügungen. Mir liegt eigentlich Magie und Esoterik
fern; doch oft mögen es solche Momente sein, die uns uns selbst
hinterfragen lassen, hinter die Kulissen sehen lassen, Dinge zulassen,
die man ansonsten als „irreal“ davonwischt, und die man eben doch als
innere, manchmal vererbte, manchmal erlebte und tief verschlossene,
weggeschlossene, Erfahrungen in sich trägt. Und ja, deswegen sind mir
diese scheinbar „magischen Momente“ auch wichtig. Wenn eine Schamanin in
meinem Roman dem zwölfjährigen Aaron einen Traumfänger überreicht, dann
heißt dies, dass sie gesehen hat, dass er schwere Träume hat, Dinge,
die ihn belasten, und dass sie versucht, diese von ihm fernzuhalten. Und
über diesen scheinbar ‚magischen‘ Traumfänger versteht dies auch seine
Umgebung, und er selbst und kann es akzeptieren und zulassen. Ja, diese
„Magie“ ist es, die mir wichtig ist, und von der ich glaube, dass sie
existiert.
Etwa gleichzeitig mit der „Hoffnung der Nebelkinder“ ist ein
weiteres Buch von Dir erschienen, „Koffer voller Briefe“ im Verlag
edition federleicht. Auch hier geht es um Schicksal, allerdings weniger
durch die Generationen hindurch, sondern innerhalb einer Generation. Dem
Protagonisten Elias, einem jungen, attraktiven Witwer, wird ein Koffer
mit Briefen überstellt, die eine Jugendfreundin fast täglich an ihn
gerichtet hatte, bis sie sich schließlich das Leben nahm. Elias wirft
sich vor, dafür verantwortlich zu sein, weil er das Mädchen seinerzeit
zurückgewiesen und sein Schicksal nicht weiter verfolgt hatte. Er
beginnt nun, seine Schuld abzutragen und zu versuchen, zwischen Freunden
Streit zu schlichten, sich um eine verarmte Bekannte zu kümmern und
weiteren Menschen aus seinem Umfeld zu helfen. Dabei findet er unbemerkt
zu seiner eigenen Liebe und wird von der Schuld freigesprochen:
Isabella, die Absenderin der Briefe, hatte ihr eigenes Trauma und hatte
Elias mit ihren vielen Briefen als Projektionsfläche für sich genutzt.
Auch dieser Roman enthält sowohl viel psychologischen Realismus, als
auch schicksalhafte Fügungen, so die Freundschaft der Reiseunternehmerin
Rosie mit Elias‘ Tochter Anne, die noch sehr um ihre verstorbene Mutter
trauert. Schicksalhaft ist daran, dass auch Elias selbst sich für Rosie
interessiert, seine Tochter aber eine neue Frau im Haus noch
ablehnt.
Während es in der „Hoffnung der Nebelkinder“ wechselnde
zeitliche Ebenen gibt, ist dieser Text nach den Namen der Personen,
denen Elias Gutes tut, gegliedert und dazwischen werden die jeweiligen
Briefe von Isabella eingeblendet. Dadurch haben die beiden Romane eine
unterschiedliche Struktur. Wie hat die parallele Arbeit an diesen beiden
strukturell so unterschiedlichen Projekten ausgesehen?
Ich danke ich Dir zuerst einmal für deine Interpretation – es ist ein
wundervolles Gefühl für eine Autorin, wenn man spürt, dass dies
angekommen ist, was man so sehnlichst erzählen wollte.
Tatsächlich habe ich an diesen zwei Geschichten nicht parallel
gearbeitet.
Den ‚Koffer voller Briefe‘ habe ich 2019 begonnen zu schreiben, als mir
ein Bekannter seine Geschichte, die Anfangsgeschichte erzählt hat, dass
eine Frau seit dreißig Jahren jeden Tag einen Brief an ihn geschrieben
und nie abgesandt hat. Es war eigentlich nach den Nebelkindern I, die
damals ja gar nicht als Trilogie geplant waren (und ich bin so dankbar,
dass die anfangs gestrichenen 400 Seiten dann doch noch ins Leben
kommen, und ich alle Geschichten der Figuren zu Ende erzählen
durfte.).
Doch – für mich unverständlicherweise – wollte man diese Geschichte
nicht: Mein Stamm-Verlag, der Aufbau Verlag, fand, es passe nicht in
meine „Schiene“, die man für mich aufgebaut habe: psychologischer
Familienroman. Und meine Literatur-Agentur wollte den Roman erst gar
nicht den Verlagen anbieten, denn ein Roman solle keinen männlichen
Protagonisten haben, so sagte sie.
Ich war entsetzt und traurig, dass dieser Roman zu einem
„Schubladen-Manuskript“ wurde. Denn ich fand diese Geschichte wunderbar
und wichtig. Und ich wollte sie erzählen, weil der Mann, dessen wahre
Lebensgeschichte es ist, schwer an Krebs erkrankt ist.
Als ich durch einen Zufall auf der Frankfurter Buchmesse die Verlegerin
der edition federleicht, Karina Lotz, kennenlernte und sie sofort
begeistert von dieser Geschichte war, machte mich das sehr glücklich.
Ich wollte, dass diese Geschichte leben darf.
Konntest du in „Koffer voller Briefe“ etwas schriftstellerisch
verwirklichen und ausleben, was in den „Nebelkindern“ vielleicht nicht
möglich war? Oder umgekehrt?
Natürlich – in jedem meiner Werke steckt etwas, das ich unbedingt
erzählen will. Sonst könnte ich nicht schreiben. Die Geschichte der
Kriegs-Enkel, die auch meine ist, war mir sehr wichtig zu erzählen. Und
die überwältigende Flut an Leserbriefen spiegelt mir wider, dass sie für
viele andere auch sehr wichtig war.
Beim ‚Koffer voller Briefe‘ habe ich eine Geschichte gehört, die so
außergewöhnlich ist und die absolut erzählt werden muss, so fand ich,
weil jeder ihre Aussage versteht. Jeder von uns hat schon einmal seine
Mitmenschen verletzt. Und jeder hat die Möglichkeit, sein ganzes
weiteres Leben, seinen Mitmenschen gut zu tun. Eben immer soweit es
möglich ist. Gerade die Menschen in unserer Zeit, geprägt von Pandemie
und Krieg, verstehen sofort, dass es wichtig ist achtsam zu sein, zu
sich und zu seinen Mitmenschen. Und dass es eigentlich so leicht
ist.
Wie kam es zu der Zeitgleichheit (8. August bzw. 19. September
2023) dieser beiden Veröffentlichungen?
Dies war tatsächlich eher ein Zufall. Ein großer Verlag, wie Aufbau,
plant etwa ein Jahr im Voraus. Ein kleiner Verlag wie die edition
federleicht, ist da flexibler. Die Verlegerin Karina Lotz und ich
brannten beide für den Stoff, wir arbeiteten zusammen daran, und dann
wurde der schnellstmögliche Drucktermin gesucht – und so entstanden
plötzlich zwei Romane in einem Jahr.
Wie kommt es, dass zwei thematisch nicht ganz unverwandte
Bücher in zwei grundverschiedenen Verlagen erschienen
sind?
Auch hier muss ich erst einmal in deine Fragestellung hineindenken. Sind
es nicht ganz andere Dinge: die Traumatisierung der Kriegs-Enkel und
die Reflektion darüber, dass man achtsam auf seine Taten sein sollte?
Doch auch hier hast du recht. Für mich ist es wichtig und richtig, auf
sich selbst zu achten, Verdrängtes zuzulassen, sich damit
auseinanderzusetzen, sich zu positionieren, und neu zu sortieren. Einen
neuen Blick auf das eigene Leben zu finden. Mit dem man besser
zurechtkommt.
So kommen tatsächlich wieder ähnliche Dinge zusammen.
Dass sie in zwei verschiedenen Verlagen erschienen sind, liegt einfach
an der Buchbranche, die ihre eigenen, wirtschaftlichen Gesetze hat. Da
will beispielsweise ein Verlag die Autorin in einer Schiene sehen, die
dem Leser, der Leserin sofort verständlich ist. Und ein anderer Verlag
will einfach die andere, besondere Geschichte.
Und wenn es so wie in meinem Fall läuft – dann ist die Autorin
glücklich.
Welche Vorteile bietet ein Publikumsverlag wie Aufbau und
welche Vorteile bietet ein kleinerer, unabhängiger Verlag wie die
edition federleicht?
Ein Publikums-Verlag hat eine große Marktmacht, er bringt die Bücher in
Buchhandlungen und den Online-Verkauf. Er hat viele Möglichkeiten, seine
AutorInnen optimal zu unterstützen, er hat hervorragende LektorInnen,
Marketing-Menschen und Vertriebsleute. Er lässt AutorInnen von Ihrem
Schreiben leben. Und, im besten Fall, wie bei mir und dem Aufbau-Verlag,
sind dort sehr kluge, belesene, einfühlsame und literaturbegeisterte
Menschen, die mit dem Autor, der Autorin zusammenarbeiten. Wie bei mir
der wunderbare Verleger Reinhard Rohn und meine Lektorin Christina
Weiser, die mit mir gerade die Idee für meinen neuen Roman geboren hat –
eine großartige Idee! Dafür bin ich sehr dankbar, sehr glücklich.
Ein kleiner Verlag hat mehr Freiheiten, ist nicht ganz so
marktgetrieben, muss nicht jedes Jahr seinen Gewinn erhöhen. Hier gibt
es oft Menschen, die ganz in der Literatur aufgehen, wie Karina Lotz von
der edition federleicht. Hier geht es weniger um Strategien und noch
mehr um das Wort.
Wenn ich dies beides erleben darf, ist es ein ungeahnter
Glücksfall.
Was planst du als Nächstes?
Mein nächstes Buch werde ich, vertraglich festgelegt, im Mai 2024 an den
Aufbau Verlag abgeben, im Herbst wird es erscheinen.
Das neue Buch handelt von einem psychologischen Thema, das erst seit
wenigen Jahren überhaupt einen Namen erhalten hat. Seitdem verbreitet
sich dieser Begriff mehr und mehr als ein jahrzehntelang übersehenes
Problem, das von immenser Wichtigkeit ist und fast jede Familie in
näherer oder weiterer Umgebung betrifft.
Mehr wird erst verraten, wenn das Buch im Oktober 2024 erscheinen
wird.