Die Provinz Ulster ist nicht Teil des britischen Nordirland, aber man spricht dort Englisch. Das County Donegal gehört dazu, die Heimat der Lyrikerin Moya Cannon. Fünf Gedichtbände hat sie bisher veröffentlicht. Daraus haben Eva Bourke und Eric Giebel eine Auswahl ins Deutsche übersetzt, und offensichtlich ist es ihnen leichtgefallen. Bernd Leukert hat sich im „Privaten Land“ umgesehen.
Die Irin Moya Cannon kommt aus dem hohen Nordwesten der Insel, dem County Donegal, wo das eingeborene Irisch nicht verbreitet ist, schreibt ihre Gedichte also auf Englisch. Das erleichtert uns den Zugang; darüberhinaus ist die Machart und die Wortwahl ihrer Poesie so einfach gehalten, dass auch Eva Bourke und Eric Giebel, die die Verse ausgewählt und übersetzt haben, keine größeren Probleme mit der Sinnfindung gehabt haben dürften. Eric Giebel schrieb denn auch in einer separat veröffentlichten Einführung mit dem Titel „Lullaby“: „Cannons Lyrik zu übersetzen, ist eine dankbare Aufgabe, da die Autorin universelle Codes mitgibt, die intuitiv zugänglich sind, auch ohne dass für jedes englische Wort sogleich ein deutsches entsteht.“
Moya Cannons Lyrik ist erzählend, beschreibend und reflektierend, dabei nicht ausdrücklich bodenständig. So beginnt der Band mit einem „Blick vom Binn Bhriocáin im Winter“, von einem Berg also, der in Connemara, dem westlichen Teil Galways zu finden ist. Andere außerhäusige Schauplätze sind das British Museum, die Höhle von Rouffignac in der Dordogne, das portugiesische Coimbra, das Musée des Tissus in Lyon, die National Gallery in Dublin, Kilcolman im County Cork, Philadelphia und New York, so wie das spanische Córdoba. Der Titel „Ein privates Land“ bezieht sich auf keinen Titel der in diesem Band versammelten Gedichte, sondern auf die letzten Zeilen des Gedichts „Death“, in denen Cannon den Tod und die Liebe einem privaten Land zuordnet. Die Dichterin, die jetzt in Dublin lebt, siedelt indessen einige poetische Notizen in ihrer Herkunftsregion an, wenn sie nicht gar dort aufgeschrieben wurden. Jedenfalls an der Küste angesiedelt muss „Seeigel“ (Sea Urchins) sein: Diese entfernten Cousins der Seesterne/ sind eingegraben in ihre Felsenwabe oberhalb der Flutlinie./ Still verzehren sie Kalkstein/ und die angeschwemmten Schalen toter Napfschnecken.// Sie verdauen den Stein in ihren weichen Gedärmen,/ bilden daraus Panzer brauner Stacheln/ und prächtige, symmetrische Gehäuse,/ die die Wellen uns zuweilen/ unversehrt zuspielen –/ sonnengebleichte, rosafarbene Meereslaternen.
Moya Cannon als Naturdichterin zu bezeichnen, wäre allerdings
zu kurz gegriffen. Denn die Erkenntnisse, die sie oft aus ihren
Betrachtungen zieht, sind von Empathie und Gerechtigkeitsempfinden
durchtränkt, etwa wenn sie in „Die wichtigen Toten“ (The Important Dead)
die Knochen der Stammesfürsten und Grafen, die in der Franziskus-Abtei
zu Ross Errily ruhen, denen der irischen Kämpfer und Soldaten Cromwells
entgegenhält – und denen der Feldmaus, die von den Eulen ausgewürgt
wurden. Oder, noch deutlicher in „Halseisen“ (The Collar), wo sie in der
Moschee Abd al-Rahman in Cordoba, in der Stadt der Kordialität, wo eine
Zeit lang/ Muslime, Christen und Juden in Freundschaft zusammen/ lebten
und arbeiteten, ein Wappen entdeckt, auf dem die Worte Ave Maria,
Gratia Plena, sowie einen Mohren mit Turban in Halseisen eingemeißelt
sind: Und die Moschee/ begann, sich zu füllen/ mit dem Gerassel der
Kreuzzüge,/ und dem Aroma gebackener Kipferl aus Wien,/ mit dem Gestank
der Massengräber von Srebrenica,/ mit Staub und Asche der einstürzenden
Türme von New York, und dem Drohnengesumm über Pakistan, mit
Halseisengeklirr …
Moya Cannons Kunst besteht vor allem darin, mit konkreten, detaillierten
Beschreibungen Stimmungen zu erzeugen, die diese Beschreibungen
transzendieren. So beschreibt sie in dem Inselgedicht „Little Skellig“
die goldköpfigen Basstölpel, die sich ins Meer stürzen. (Es fällt ihr
nicht schwer, dabei an Erzengel zu glauben, – im Original wird dies noch
mit einer Reihe von Cherubim bekräftigt, die sich in der Deutschen
Übersetzung verflüchtigt haben.) In den letzten Zeilen heißt es: … dann
stößt ein Baßtölpel herab/ und etwas ist/ an der Gier und Anmut/ dieses
kreuzförmigen Sturzflugs,/ das laut ruft/ zu unseren ungefiederten
Knochen.
Da prallen die Gegensätze kreuzweis aufeinander und deuten auf „etwas“,
das jenseits der Worte wirkt.
erstellt am 25.3.2019
aktualisiert am 16.4.2019