Die ungarische Lyrikerin Orsolya Kalász lebt in Budapest und Berlin, schreibt auf Ungarisch und auf Deutsch. Die Berührungspunkte, die beide Sprachen miteinander haben, sind beschränkt. Mit ihrer Verwandlungskunst findet die Poetin einen Ausweg aus dem Dilemma der Zweisprachigkeit. Bernd Leukert stellt Kalász’ zweisprachigen Band „alles, was wird, will seinen strauch“ vor.
Es gibt einige Gedichte, die in
aphoristischer Kürze bei einem Sprachbild bleiben, wie „Futur II“: Auf
den gelenkigen Rücken/ junger Hunde/ jagen/ vor unseren Augen/ jene
Momente/ des Glücks/ über die Parkwiese,/ die wir einst/ gehabt haben
werden.
Es gibt einige andere, die über die traditionelle Geschlossenheit des
Sinnbilds hinausgehen und, ohne sich umzusehen, von einer Traumszene in
die nächste hineinlaufen, wie in der „Beschwörung“, in der die ‚Wunde
deiner Liebe’ mit zwei Geschichten geheilt wird.
Das
Gedicht „Sitzen, Schwitzen, Schweigen!“ beginnt mit der
verheißungsvollen Exposition: An einem der Frauentage betrat/ die
Hüterin der unbenannten Dinge/ die glühende Sauna. Nach der
surrealistischen Beschreibung der Saunaszene schließt sich ein Lied an,
in dem – im ausgetrockneten See – alte Weiber Schwänen die Hälse
umdrehen, ihr selbst die Kehle zugedrückt wird und der Bruder die Federn
frisst. Ich komm nicht mehr zurück. So endet der Saunatraum und das
Gedicht.
Dass Gedichte woandershin laufen, als zu erwarten ist, gehört zu den
Brüchen mit der Konvention, die diesen erstaunlichen Band füllen. Wer
sich die Zeit nimmt, die Poesie auch mehrmals zu lesen, stößt auf
unsagbare Dinge, die paradoxerweise dem Glauben an die Entstehung der
Welt durch das Wort Auftrieb geben. Der Begriff ‚Zweisprachigkeit’
bekommt hier eine etwas andere Bedeutung.
In der Regel haben wir es mit einem Autor zu tun und einem Übersetzer, der die Gedichte ins Deutsche bringt: Zwei Menschen und zwei Sprachen, die sich zuweilen aneinander reiben oder sich gar nicht verstehen können. Bei der Lyrikerin Orsolya Kalász ist das anders. Sie stellt deutsche Versionen ihrer ungarischen Gedichte her. Damit löst sie selbstbewusst all die Probleme, die sich zwischen Bedeutung, Lautstand und Rhythmus stellen, Probleme, die sich eben nur der texttreuen Übersetzung stellen. Und dennoch ist dieses Vorgehen fern aller Nonchalance; sagt sie doch in einem Gespräch, das Kathrin Schadt mit der Peter-Huchel-Preisträgerin 2017 führte (auf fixpoetry, 24.04.2017):
„Am Anfang ging es mir darum, meine ungarischen Gedichte in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Also habe ich die Texte übersetzt. Heute ist es mehr eine Möglichkeit, alles, was mit dem Schreiben eines konkreten Gedichtes zu tun hat, auszuweiten, dem Wunsch fertig zu werden, nicht voreilig nachzugeben. Der Einfluss einer grammatischen Struktur auf mein Denken lässt sich im Sprachwechsel für einen Augenblick außer Kraft setzen. Andere Wege, andere Zwänge werden geboten. Das macht was mit einem! Ungarisch und Deutsch sind nämlich zwei Systeme, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber eine Frage stelle ich mir immer wieder. Worüber kann und muss ich in einem Gedicht schweigen, um nicht wie ein von allem und jedem getrenntes Wesen zu sprechen?“
Das nun ist eine wahrhaft politische Frage, die die Reflexionen zur Übersetzung in der ‚Europoesie’ von Anbeginn begleitet. Wenn man weiß, dass die dem Sprachempfinden geschuldeten Abweichungen der Übertragung von einer Sprache in die andere bei Kalász auch zurückwirkt auf den Ausgangstext, diesen verändert und mit neuen Wendungen fremd macht, kann sich schon nicht mehr die Frage nach dem Original stellen.
Was bedeutet aber ‚Version’, die sich als deutsche Fassung ungarischer Gedichte niederschlägt? Eine Version ist nicht der anderssprachige Spiegel eines Textes, sie ist aber auch nicht ohne jeden Zusammenhang mit dem Original. Die Frage nach den grammatikalischen und also inhaltlichen Unterschieden der sich entsprechenden Fassungen beantwortete Orsolya Kalász mit Interlinearübersetzungen einiger ihrer ungarischen Gedichte, die sie uns dankenswerterweise zugänglich gemacht hat.
Da lautet die wortwörtliche Übersetzung des Gedichtanfangs von „Wer hätte das gedacht“: „Das Ende setzt seine Hoffnung in den Anfang (oder Von Anfang an hofft das Ende)/ … “. In der gedruckten Fassung steht: Hier steht dem Anfang sein Ende bevor,/ … Mit den Perspektiven verändern sich die Aussagen. Und die Unterschiede sind erheblich. Augenfälliger noch nehmen sich die Abweichungen am Ende des Gedichts aus. In der Interlinearübersetzung heißt es: „Plötzlich/ wie durch Löcher/ eines Kopfkissens/ das ausströmt/ und tobt/ was war und möchte Strauch werden (sein).“ Die deutsche Fassung, die im Buch steht, ist: An der Schwelle,/ die ich dachte,/ einen Anfang/ mit dem Ende machen./ Und alles, was sprießt,/ aus den Spalten,/ Rissen und Trichtern,/ aus den Kissen/ auffliegt und siegt,/ alles, was wird,/ will seinen Strauch.
Diese Variante ist nicht nur ausgestaltet, sie tauscht auch die
Selbstverwandlung in einen Strauch mit einer Objektbeziehung aus: alles
will seinen Strauch.
Orsolya Kalász hat dafür auf Sprachbilder des 12-strophigen Gedichts
„Eszmélet“ (Besinnung) – besonders aus der 4. Strophe – von József
Attila zurückgegriffen, hat sie abgewandelt und ihrem Text als Teil
einer anderen Überlegung einverleibt.
Solche Transplantationen finden wir auch, als Zitat gekennzeichnet oder
nicht, in dem langen, siebenteiligen Gedicht „Ich habe das Gedicht von
Christine Lavant gelesen“. Aus Lavants Gedicht, das mit der Frage
beginnt: „Sind das wohl Menschen?“ (gemeint sind Männer), stammen etwa
die Worte „ein Mann“ und „Schienen“, doch in ihrem Gedicht wird aus
Lavants unbestimmtem Mann ein konkreter Mann, der am offenen Fenster im
Turm des Rangierbahnhofs steht. Auch die metaphorischen Schienen der
österreichischen Dichterin, die für die „Bänder von Schmerz“ stehen,
werden bei Kalász zu realen Gleisen, über die sich ein Klangbogen
spannt, die zum Glockenklang führen, den Christine Lavant in anderen
Gedichten erwähnt („In meinen Ohren läutet überzählig/ ein Glockenpaar
…“), und der bei Kalász zu ganz anderen Geschichten führt, die
angereichert sind mit wieder anderen Bildern und anekdotischen Bezügen.
Was hier nur angedeutet werden kann, folgt dem permanenten Prozess der
Neukombination aufgefundener Worte, die mit Bezug auf ihre Kontexte in
neue Kontexte überführt werden, die in Synthesen mit heterogenen
Assoziationen in eine spannungsreiche Montage münden.
Die reflektierte Methode und einfühlsam-formbewusste Gestaltung sind Reaktionen auf eine nicht überbrückbare Differenz. „Ich habe ja deswegen ANDERS geschrieben,“ teilt Orsolya Kalász mit, „weil ich in der einen Sprache ein anderes Verständnis, Wissen, andere Gefühle, Referenzen und was auch immer – intuitiv – voraussetze, in mir habe.“
Da spricht sich ein poetisches Selbstverständnis aus, das der Sprachgestaltung zugute kommt, aber damit bleibt auch die Tür zum Verständnis einer anderen Sprache verschlossen. Wir erfahren nicht, wie das ungarische Gedicht „denkt“. Es mag sein, dass uns das auch gar nicht begreiflich sein kann. Und deshalb muss darüber wohl in einem Gedicht geschwiegen werden.
erstellt am 28.9.2018
aktualisiert am 15.10.2018