Lyriktage Frankfurt 2023. Unter diesem Namen nahm nach der Pandemie das Kulturamt der Stadt Frankfurt eine Festivalreihe wieder auf, in der ganz und gar die Dichtung der Gegenwart im Mittelpunkt stand. Und wie es aussah, wurden die Inhalte nicht von Programmexperten, sondern von den Zeitumständen vorgegeben. Bernd Leukert war mit seinem Notizbuch dabei.
Das Interesse ist enorm. Die Lesungen und Gespräche bei den viertägigen, von der Leiterin des Literaturreferats der Stadt Frankfurt, Sonja Vandenrath, kuratierten „Lyriktagen Frankfurt“, die im Grunde seit 2007, aber nun unter diesem originellen Titel erstmalig vorstellig wurden, waren dermaßen gut besucht, daß das Gerede vom Verschwinden der Poesie aus den Desideraten selbst der kulturell Interessierten absurd erscheint. Nach wie vor gibt es zwar wohl mehr dichtende Menschen als Leser ihrer Gedichte; und trotz des Lyrikbooms kann man den Rückzug vor allem privatwirtschaftlicher Medien – aber auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der sich nur der Mehrheit der Bevölkerung verpflichtet fühlt – aus diesem gesellschaftlich durchaus wichtigen Bereich verfolgen, – sie müssen sich allerdings selbst fragen, ob ihre wirtschaftlichen Strategien nach Opferung ihrer öffentlichen Aufgaben nicht zielsicher zur Selbstauflösung führen.
Daß
Lyrik eine Infrastruktur, also Lesungen und Besprechungen kompetenter
Kritiker braucht, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, und
daß dafür neue Institutionen geschaffen werden müßten, bemerkte die
kookbooks-Verlegerin Daniela Seel beim einleitenden Podiumsgespräch mit
den Autorinnen und Autoren Katharina Schultens vom Haus für Poesie in
Berlin, dem Literaturvermittler Tristan Marquardt, dem
Literaturredakteur des Tagesspiegels, Gregor Dotzauer, und dem Dichter
Nico Bleutge, der ebenfalls die mit der zunehmenden Boulevardisierung
der Presse verbundene Vernichtung literaturanalytischen Potentials
sieht. Aber um die Lyrik selbst mache er sich keine Sorgen, hoffe auf
die junge Generation und benannte dafür Alexandru Bulucz und Paul-Henri
Campbell.
Bleutge eröffnete auch die Lyriktage mit der „Frankfurter Rede zur
Gegenwartslyrik“, in der er die Tradition der Totenklage in den Blick
nahm und sie vom Klagegeheul nach Hectors Tod in Homers Ilias (22.
Gesang, 408f) bis zu den totenklagenden Lautgedichten der Dagmara Kraus
nachzeichnete. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen
die Ukraine war damit ein relevantes Thema exponiert, das sich, offen
oder verdeckt, wie ein schwarzer Faden durch die Lesungen dieser Tage
zog.
In seiner Lesung aus dem Band „schlafbaum-variationen“ knüpfte Bleutge
daran mit Gedichten an, die nach dem Tod seines Vaters und der
Überwindung seiner Sprachblockade entstanden, gipfelnd in dem
kumulativen, nach Vorbildern wie dem englischen Kinderreim „This is the
house that Jack built“ oder Elizabeth Bishops „Visits to St. Elizabeths“
ausgefertigten „besuche im klinikum“, deren Strophenenden lauten: „der
mann, der liegt in der klinik Regensburg“. Ein anderes Thema bildet den
letzten Abschnitt seines Buches, die tatsächlichen
„schlafbaum-variationen“, aus denen er Passagen las, in denen Vögel,
die, aus dem agrarischen Umfeld vertrieben, in den Pinien der ewigen
Stadt Rom ihre Winterquartiere einrichten. Die Bewohner aber vertreiben
das unwillkommene Geflügel mit aggressiver Lautsprecherbeschallung und
schließlich mit Jagdfalken und Laserlicht. Wie der Dichter dabei das
Federvieh, vor allem, wie liebevoll er die Stare schildert, bleibt im
Gedächtnis.

I
„Es hat mich erstaunt, wie sehr die russische Literatur die Darstellung einer Kette von Gewalt ist“, bekannte Maria Stepanova während der Lesung aus ihrem „Winterpoem 20/21. In einer Datscha während der Pandemie, umgeben von einer Schneelandschaft, beschäftigt mit der Lektüre antiker Verbannungs- und klassischer russischer Literatur, machte sie sich all die Motive, Sprachbilder, den beeindruckenden Kosmos literarischer Bezüge verfügbar, die, geschickt Szenen und Zeiten wechselnd, als poetische Kommentare zur gerade stattfindenden Katastrophe in der Ukraine funktionieren, obwohl sie vorher entstanden. Da fügt sich eine Ovid-Paraphrase ebenso ein wie eine Puschkin-Anspielung oder das mittelalterliche Igorlied, in dem die Uneinigkeit der Russen beklagt und ein starker Führer herbeigesehnt wird – was Stepanova mit dem Jargon des russischen Staatsfernsehens verschneidet und so zur Parallelerzählung macht. Ein reicher Text und, im Gespräch mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja, ein souveräner Auftritt seiner Autorin.

II
In Kooperation mit dem Literaturforum, das im Frankfurter Mousonturm zuhause ist, wurde die „Lyrik aus der Nachbarschaft“ präsentiert, also die Arbeiten von sechs Lyrikerinnen und Lyriker aus dem Rhein-Main-Gebiet. Wer mit der Nahbarkeit, die beim Wort Nachbarschaft mitklingt, etwas Provinzielles erwartete, wurde enttäuscht. Profilierte Texte, die in alle Richtungen wiesen, waren zu hören, von „Besser nicht warten auf King Tide“, in dem Judith Hennemann mit eindringlich beschriebenen Szenen und Berichten die Folgen der Nuklearwaffen-Tests auf den Marshallinseln vergegenwärtigte, über die fixierten Landschaftsbeschreibungen und „unverständliche Borken, an denen wir unser Selbstbewußtsein verlieren“ des Andreas Hutt, die mit Heiterkeit bedeckte Verzweiflung bei Julia Grinberg („mein tod ist ein verspieltes kind, ich glaube, es ist ein mädchen. … du weißt, ich habe keine eile. … wir trinken wein und hören die amsel singen.“), die mit dem Jargon jonglierenden Julia Mantel („wenn du eigentlich denkst, die karibik steht dir zu“), den die Worte experimentell kombinierenden Dirk Hülstrunk („irgendein Tisch, Wege, Orte, plötzlicher Nebel“) und die gewitzt Redewendungen nachspürende Cecily Ogunjobi („Ihre Standhaftigkeit steht ihr oft im Weg“) bis zum pathosgeneigten, körpergestisch-performativen Martin Piekar („Hörst du’s nicht, das Brüllen des Jenseits?“), der gestand, vom letzten Satz des Opportunity-Marsrover („My battery is low and it’s getting dark“) gerührt zu sein.

III
Das
große Aufregerthema unserer Tage, die drohende Ersetzung des Menschen
durch die künstliche Intelligenz (KI), mußte auch die künstlerische
Existenz der Poetinnen und Poeten angehen, zumal einige von ihnen schon
mit dem textbasierten Dialogsystem ChatGPT experimentierten, das heißt,
es mit eigenem Textmaterial versorgten, um den Algorithmen humanoide
Lyrik abzulesen. In einer vom Deutschlandfunkredakteur Jan Drees
kenntnisreich moderierten Gesprächsrunde „ChatGPT als Dichter:in?“, an
der die Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin Monika Rinck, der
Philosoph, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Hannes Bajohr,
der digitales Schreiben und Literatur mit künstlicher Intelligenz
untersuchte, der Literaturkritiker und Professor für Neuere Deutsche
Literatur in Aachen, Christian Metz, und der österreichische
Informatiker, Künstler, Lautpoet und Schriftsteller, Jörg Piringer,
unter anderem Verfasser des Buches „Günstige Intelligenz“. Selten läßt
läßt sich ein Gespräch so bündig zusammenfassen wie dieses:
Am Anfang stand die Äußerung „KI ist, wenn der Computer uns davon
überzeugt, daß er ein Mensch ist.“ Darüber nachzudenken heißt, über uns
Menschen nachzudenken. Überzeugt er also, der Computer?
– Man kann nur herausholen, was schon drin war. Neuheit kann in ChatGPT
nicht stattfinden, weil die Kognition fehlt. KI kann nicht spontan sein.
KI schreibt fehlerfreie Texte, was in der Universität ungewohnt ist.
(Metz)
– Es handelt sich um einfache neuronale Netze. ChatGPT lernt durch
Wiederholung und Korrektur. Eine Performance durch KI wird stattfinden.
Aber eine Maschine kann keine Kalauer machen. KI ist erkennbar an ihren
Banalitäten und ihren Fehlern. Maschinen können nicht denken.
(Piringer)
– Kann ich ohne Erfahrung lernen? Für ChatGPT spielt Sinn keine Rolle.
Es wird kostenpflichtige Zusatzprogramme geben. Es gibt schon Poetische
Agenten, die sich als KI erweisen. (Rinck)
– ChatGPT funktioniert auf der Basis der Wahrscheinlichkeit. ChatGPT
kann nur Klischees produzieren, also keine Gedichte, vor allem, weil er
keine Person ist. Die Texte sind schlecht, und ihr Entstehungsprozeß ist
nicht erklärbar, weil statistisch und stochastisch. Sie sind
vorhersehbar und deshalb langweilig. Die Textgenerierung entspricht der
Erwartbarkeit. Weil Inhalte fehlen, gibt es keine Kausalität. Nur
Imitation von Kausalität. (Bajohr)
Angesichts der beschworenen Bedrohung, die von der Maschine als
Dichterin ausginge, wirkte das Expertengespräch doch sehr beruhigend und
erwartbar wie ein Gedicht von ChatGPT. Aber vielleicht kann KI einen
Menschen zukünftig an zwei Orte zugleich versetzen, damit er parallel
angesetzte Lesungen und Gesprächsrunden der Lyriktage Frankfurt nicht
missen muß.
IV
Die lange Nacht der Lyrik,
Höhepunkt der Lyriktage Frankfurt, fand, wie die Eröffnung und andere
Veranstaltungen, in der Evangelischen Akademie Frankfurt auf dem
Römerberg statt. Die Poetischen Streifzüge waren unter drei Moderatoren
aufgeteilt: Claudia Kramaschek, Beate Tröger, die klug leitend und
anregend schon mehrere Lesungen und Diskussionen dieser Tage absolviert
hatte, und Christian Metz, auch er ein kundiger und vielfach
beschäftigter Gesprächsgestalter dieses Festivals.
Vor allem die Lyrikerinnen trugen die elegische Tradition weiter, am
eindrücklichsten Anja Utler, die nach dem Überfall auf die Ukraine sich
nicht mehr schreibfähig fühlte, und erst allmählich Haiku-ähnlichen
Trauernotate verfaßte, deren jedes mit einer identischen Zeile beginnt:
„Es beginnt der Tag“. Auch Ronja Othmann, die von den Repressionen gegen
die Jesiden und dem Massaker an den Aleviten („Wo du standest, wächst
Rosmarin“) las, faßt Gedichte als Klagelieder auf; und die
Österreicherin Sabine Gruber leistet in ihren Journalgedichten
Trauerarbeit („Durch die Lebenden führt die Straße der Verstorbenen“)
wie Sibylla Vričić Hausmann („Großmutter, wer hat dir den Hals
umgedreht?“) das Hadern mit den Erwartungen an die Mutterrolle und die
Wut auf die Frauenrollen artikulierte. Selbst Lütfiye Güzel, die
zunächst mit pointierten Aphorismen brillierte („Menschen zu begegnen,
denen man zu recht nichts bedeutet, das macht schlapp“), kam schließlich
mit wütender Lakonie in längeren Texten zur Klage. Volha Hapeyeva aus
Belarus, mit der die lange Nacht begann, hat sich dagegen in der Poesie
in Sicherheit gebracht. Dort fühle sie sich zuhause und wisse, wie das
funktioniert und: „Daß es Zeit gar nicht gibt, sondern nur das
Gedächtnis.“
Der in diesem Jahr gefeierte Lyriker und Gründer des Elif-Verlages,
Dinçer Güçyeter, trug Gedichte aus seinem Band „Mein Prinz, ich bin das
Ghetto“ vor, durch die sich das Feuer verbreitet. Von einer „Schildkröte
mit zwei Erdkugeln im Gesicht“ heißt es: „sie hat den Brand überlebt,
ihr Panzer nicht“, um zu enden mit: „du wirst es in diesen Gedichten
lesen/ ich habe den Brand überlebt, mein Panzer nicht“. Paul-Henri
Campbell, dessen Band „innere organe“ seine körperbezogenen
Gedichtzyklen fortsetzt, las unter anderem daraus die Leber-Litanei,
eine mit ihr enzyklopädisch aufgelisteten Leber-Wortverbindungen
grotesken „Organ“-Beschreibung: „Die Leber ist das Organ der Offenbarung
schlechthin.“ Der in Charkiw geborene Yevgeniy Breyger führte zurück
zum desaströsen Hintergrund der trauerbeschatteten Lyrik, berichtete von
der enttäuschten Hoffnung, mit „Schwanensee“ im Radio den Tod des
Autokraten vermittelt zu bekommen, und las aus seinem Band „Frieden ohne
Krieg“: „Riechst du den Plastikatem der Toten?“
Man verläßt die diskret und wohlorganisierten Lyriktage Frankfurt trotz der bedrückenden Thematik mit einem lyrischen Summen im Kopf, aber auch bereichert von der Flut der Sprachbilder, von der Intensität des gemeinsamen Zuhörens, Mitdenkens und Mitfühlens, von der kollektiven Spannung, mit der die Lesungen und Gespräche aufgenommen wurden. Denn in Frankfurt ist Lyrik kein Showbusiness, sondern Beteiligung am poetischen Anspruch.

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