Im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gab der Fabeldichter Äsop seinen Lesern etwas zum Nachdenken. Seine Tiergeschichten meinten Menschengeschichten, waren belehrende Gleichnisse oder Parabeln – eine Textart, die sich, oft auch im kirchlichen Dienst, durch die Literaturgeschichte zieht. Mariam Grote schrieb die Parabel „Am großen Gebirge“, die, zusammen mit ihrem Gedicht „Augen-Blick (altmodisches Liebeslied)“, einen Einblick in ihr literarisches Schaffen erlaubt.
Am großen Gebirge
In den weiten und verschiedenartigen Landschaften um das große Gebirge mit undurchdringlichen Bergketten, abgelegenen Hochebenen und zerklüfteten Tälern, lebten verschiedene Völker.
Diese unterschieden sich in ihren Sitten und Ansichten, besonders unterschieden sie sich jedoch in der Frage, welches das wahre Wasser des Lebens sei.
Oben in der Abgeschiedenheit des Hochlandes, zur einen Seite
von schneebedeckten Gipfeln umschlossen, zur anderen von der sich
öffnenden Ebene, gab es eine Felsenstadt, die vor langer Zeit in den
Berghängen errichtet worden war.
Sie lag in der Nähe eines stillen Bergsees, dessen Wasser die Bewohner
verehrten. Ihrer Überzeugung nach war einzig ruhendes, unbewegtes Wasser
wie aus diesem See geeignet, dem Menschen Lebenskraft zu verleihen.
Sie fürchteten sich vor der Bewegtheit aller fließenden Wasser und
schrieben sowohl dem Regenwasser, vor allem aber dem bisweilen reißenden
Wasser der Flüsse, schädliche Auswirkungen auf den Menschen zu:
„Das bewegte Wasser bringt Unruhe und treibt die Menschen zu wilden,
unbeherrschten Taten. Allein die gebändigte Kraft von stillem, ruhenden
Wasser kann den Menschen auf seinem Weg stärken. Meidet das unstete
Wasser und verkehrt nicht mit denjenigen, die davon trinken, damit ihre
Unbeherrschtheit nicht auf euch übergehe.
Auch vor Regenwasser sollt ihr euch in Acht nehmen. Mit seiner
Hilfe reinigt sich der Himmel, und wer es trinkt, bevor es in den Seen
wieder zur Ruhe gekommen ist, und Sonne, Mond und Sterne, Felsen und
Gebirge sich darin spiegeln, der läuft Gefahr, dass sich sein Verstand
eintrübt und er der geistigen Verwirrung anheimfällt.“
Andere, deren Gebiete sich westlich des Hochlandes durch enge Bergtäler
bis hinab in das große Flussbecken am Eingang der westlichen Ebene
zogen, meinten, allein das bewegte Wasser der Flüsse und Bäche, das
wilde Wasser der Wasserfälle, sei wahres, lebendiges Wasser – denn nur
wo Bewegung sei, da sei auch Leben. Schäumende Gebirgsbäche, die durch
enge Täler brausten und Mühlen und Sägewerke antrieben, tosende
Wasserfälle und eilige Wildflüsse jagten unaufhaltsam über starren Fels
und durch dichte Bergwälder. In rauschendem Triumph stürzten sie
hinunter, Bäume und Blumen zierten ihren Lauf – waren sie nicht die
Könige der Ebene, die Lebensadern des Landes?
„Einzig freies, unbändiges Wasser in seiner natürlichen Kraft und
Bewegung kann Träger der göttlichen Lebenskraft sein!“, das war die
Auffassung der Anhänger des wilden Wassers.
„Wer das stehende Wasser der Seen trinkt, wird vom eigenen Spiegelbild
abgelenkt, wird eitel und starr, lässt sich trügen vom Schein.
Ebenso schädlich ist der Einfluss von Regenwasser, denn es schwächt den
Willen und die Tatkraft des Menschen. So untätig, wie es vom Himmel
fällt, so untätig und ohne innere Bewegung werden auch diejenigen, die
davon trinken. Sie können aus eigener Kraft nichts bewerkstelligen und
verkümmern zu stumpfen Befehlsempfängern und abhängigen
Dienstboten.“
In den ausgedehnten östlichen Ebenen, die am Fuße der Berge
fruchtbar und grün, in der Fläche jedoch zunehmend trocken und staubig
waren, kannte man die Schönheit der Bergseen nicht, und die wenigen
Flüsse dort waren behäbig und trüb geworden oder zu kümmerlichen
Rinnsalen verkommen.
Es war der Regen, der die Ernte sicherte.
Daher galt Regenwasser, welches die Erde noch nicht berührt hatte und
von himmlischen Kräften durchdrungen war, den Bewohnern der Ebene als
wahres Lebenselixier.
Sie hielten das Wasser der Flüsse durch seine Verbundenheit mit der Erde
und ihren Lebenswesen für verdorben.
„Hütet euch vor den Wassern, welche die Erde berührt haben, denn sie
haben ihre Reinheit verloren. Wer davon trinkt, verliert die Verbindung
zu den himmlischen Mächten und ist dem inneren Verfall preisgegeben.
Hütet euch vor denen, die unreines Wasser saufen wie das Vieh, denn
viehisch ist auch ihre Lebensweise.“
Jedes der Völker beanspruchte für sich, das weiseste und
fortgeschrittenste zu sein. Jedoch war man überall davon überzeugt, die
unbezwingbaren Gipfel des großen Gebirges seien eine naturgegebene
Grenze, die nicht überschritten werden dürfe. Dahinter lauerten
womöglich unabsehbare Gefahren und Abgründe, vielleicht sogar das Ende
der Welt.
Niemand dürfe daher das Land seiner Geburt eigenmächtig und von Neugier
getrieben verlassen.
Von Zeit zu Zeit durchquerten Reisende die Gegend. Einige von ihnen berichteten von einem Gewässer, welches keine Grenzen zu haben schien. Allerdings würde niemand, der bei Verstand sei, von diesem Wasser trinken, denn es sei salzig und ungenießbar. Dennoch seien unzählige Fische und viele andere erstaunliche Lebewesen darin. Außerdem stehe dieses Gewässer mit dem Mond in Verbindung, könne sich haushoch auftürmen und meilenweit in sich selbst zurückziehen.
Ungläubig und kopfschüttelnd hörte man diese Erzählungen. „Hat
man so etwas schon gehört? Fremden kann man nun einmal nicht trauen…
Wie sollte ein solches Gewässer überhaupt möglich sein? Noch dazu: ein
salziges? Wie sollte darin Leben gedeihen?
Ein vernünftiger Mensch fällt auf solche Geschichten nicht herein.
Diese Leute sind Fantasten und Aufschneider, wer kann wissen, was sie im
Schilde führen…?“.
Die Quelle
Das Treiben am großen Gebirge brachte mit der Zeit immer
buntere Blüten hervor. Die Regenwassertrinker, besonders die
Wohlhabenden, fanden Gefallen daran, das Regenwasser in erlesenen
Schalen aufzufangen. Bald galt derjenige besonders viel, der die
auffälligste und kostbarste Schale auf seinem Hausdach aufgestellt
hatte.
Die Wildwasserverehrer hingegen überboten einander darin, sich mit der
Kraft des Wassers zu messen. Wer am schnellsten, am ausdauerndsten, am
ehrgeizigsten und am waghalsigsten war, wurde allseits bewundert. Jeder
trachtete danach, seinen Nachbarn zu überbieten und zu übertrumpfen, und
sei es auch nur um Haaresbreite.
Unterdessen erdachten die Anhänger des Wassers aus den stillen Bergseen
ein Hilfsmittel, um sich zu jedem Zeitpunkt die Ruhe und Klarheit
unbewegten Wassers zu vergegenwärtigen. Sie begannen damit, an vielen
Orten Spiegel aufzustellen sowie stets kleine Spiegel mit sich zu
führen, um zu festgelegten Zeiten davor innezuhalten – glichen nicht
Spiegel der makellosen Oberfläche unbewegten Wassers?
Viele Jahre vergingen, doch der Wettbewerb blieb bestehen und die Menschen am großen Gebirge trachteten weiterhin danach, die Erhabenheit ihres Wassers über die anderen Wasser zu beweisen. Der Aufwand um die Einhaltung der jeweiligen Wassersitten wurde immer größer.
Mittlerweile wurde im Hochland die Versenkung vor dem Spiegel
als wichtigste Tagesverrichtung angesehen. Zahlreiche Spiegel wurden
aufgestellt, so dass beinahe jeder Winkel ein Spiegelbild hatte.
Die weitreichende Verbreitung von Spiegeln jedoch hatte zur Folge, dass
das Handeln und die Umstände der Menschen sichtbar wurden. Niemand
wusste mehr, wann und wo er ungesehen blieb.
In der Ebene galt nun, dass man sich vor dem Genuss von Regenwasser in
den Zustand der „Bereitschaft“ zu versetzen hatte. Bereitschaft wurde
durch Gehorsam erlangt. Gehorsam bedeutete, die strengen Regeln zu
befolgen, die rund um das Wassertrinken galten. Schalenförmige
Gegenstände wurden verehrt.
Ihre Beschädigung, auch mit Blicken oder Worten, wurde streng bestraft.
Ohne eine schalenförmige Kopfbedeckung gesehen zu werden wurde als
würdeloses, schändliches Verhalten betrachtet.
Die Wildwassermenschen hingegen forderten voneinander vor allem
Unerschrockenheit. Es galt als große Tugend, vor keinem Hindernis
zurückzuweichen, um ein spektakuläres Ziel zu erreichen –
koste es auch das eigene Leben. Von ihren Kindern verlangten sie
Mutproben, sobald diese laufen konnten.
“Herrlich ist das wilde Wasser! Nichts kann mich aufhalten!“, lehrten
sie die Kinder rufen, „schwaches Wasser verfault und versickert, nur
starkes Wasser lebt!“
Rastlos auf der Suche nach Rohstoffen für den Bau einer gigantischen,
lärmenden Stadt vor den Toren der Berge hackten sie die Erde auf,
sprengten Felsen, gruben Tunnel.
Um ihre gewaltigen Staudämme zu füllen, wollten sie sich schließlich des
Wassers aus den heiligen Seen der Hochebene bemächtigen. Sie schufen
Kanäle, auf denen sie, die Kraft der Strömung nutzend, in entfernte
Gegenden vordringen wollten.
Bald gab es heimliche Pläne, auf diese Weise in die östliche Ebene
einzufallen und das Regenwasservolk zu unterwerfen.
So kam es, dass die Menschen am großen Gebirge, im Sog der Geschehnisse,
lange Zeit den Ozean nicht bemerkten, der atmend und in sich gekehrt
jenseits der Berge ruhte.
Jedoch wurden im Laufe der sich wandelnden Zeit, die jeglichen Unsinn nur vorübergehend duldet, immer mehr Menschen den Wettbewerb um das rechte Wasser leid. Seine Bedeutung schmolz in ihren Augen wie Wachs in der Sonne. „Ist es nicht den Bäumen und Blumen gleich, welches Wasser sie nährt, so lange es frisch ist und kein Mangel daran herrscht?“, wunderten sich stirnrunzelnd immer mehr Menschen rings um das große Gebirge, „Erachtet nicht der frische Regen selbst alle Gegensätze nichtig und fällt unterschiedslos und üppig in jegliches Gewässer?”.
Manch einer zog fort, wagte sich hinauf, überwand jähe Schluchten, gähnende Abgründe, bezwang die schneebedeckten Gipfel, und entdeckte endlich den Ozean.
Den Ozean, unermesslich und weit.
Den Ozean, der den Regen in sich aufnimmt und das Wasser der Flüsse
beherbergt, der alle Himmelsfarben und Sternbilder auswendig kennt, den
felsengesäumten Ozean, sandgebettet, inselgeschmückt – den Ozean mit all
seinen Geschöpfen.
Leuchtend sah man ihn verschmelzen mit dem Rand der Welt, wo
der Mond aufsteigt und die Sonne sich zur Ruhe senkt –
fern und klein wirkten die bewohnten Gegenden im Angesicht seiner
majestätischen Weite.
„Muss nicht hier, in den unergründlichen Tiefen dieses
grenzenlosen Meeres, der Ursprung aller Wasser und allen Lebens
sein?
Stehen wir nicht vor der ewigen Quelle selbst?“, fragten sich die
Menschen überwältigt.
Manchen Wandernden, die die Höhen des großen Gebirges erklommen
und den gewaltigen Ozean erblickt hatten, war, als hebe sich für einen
Wimpernschlag ein Nebel, und sie ahnten, was der Ozean war.
Eine Silbe in einem unendlichen Namen, ein Tropfen aus einer
unerschöpflichen Quelle.
Ein wogender Faden, unaufhörlich webend am Saum eines endlosen
Kleides.
Eine schimmernde blaue Perle,
schwebend in der Unermesslichkeit heimatlicher Gefilde.