Am 10. November erhält die Schriftstellerin Annegret Held, ihr letzter Roman „Das Verkehrte und das Richtige“ ist in diesem Jahr erschienen, die Roswitha-von-Gandersheim Medaille. Bei dieser Gelegenheit hat Martin Lüdke die folgende kleine Rede gehalten. Der Preis ist mit fünftausend Euro dotiert und wird nur an Frauen verliehen.
Bei solchen Gelegenheiten wird viel, manchmal zu viel gelobt. Deshalb bitte ich Sie, mir zu gestatten, ein bisschen Salz in diese Wertschätzungs-Suppe zu streuen, genauer gesagt: zu schütten.
Doch, bitte, keine Sorge, Annegret Held kennt das von mir. Sie weiß es zu nehmen. Sie weiß nämlich, dass meine kritischen Einwände gegen ihr Schreiben auf einer grundsätzlichen Anerkennung, ja Wertschätzung beruhen.
Annegret Held ist nämlich ein, Entschuldigung, Urviech. Etwas
vornehmer gesagt: ein Naturtalent, das zuweilen etwas gezähmt sein will.
Das ist nicht nötig, wenn Sie, dafür ist sie in ihrer Heimat bekannt, in
der Faschingszeit Büttenreden hält oder für eine Art von Volkstheater
Stücke schreibt, in denen es handgreiflich derb zugeht und statt mit
einem geschliffenen Argument der Kontrahent mit einer Sahnetorte im
Gesicht zur, sagen wir, Einsicht gebracht wird.
Die Berechtigung solcher Sahnetorten in der Literatur scheint
mir aber NICHT von vorneherein
gegeben.
Doch, bitte, ich will damit nicht unterstellen, dass die Bücher von
Annegret Held, bildlich gesprochen, vor allem dem Transport von
Sahnetorten dienen.
Einfacher gesagt: Nicht alles, was Annegret Held schreibt und
geschrieben hat, finde ich gut.
Aber, und dieses ABER habe ich
hier groß geschrieben:
Aber einiges von dem, was sie geschrieben hat, das finde ich SEHR gut. Genauer gesagt sogar –
ausgezeichnet. Mit einigen ihrer Bücher hat sich Annegret Held sozusagen
in die erste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben. Diese
Bücher können bestehen neben, sagen wir, Wilhelm Genazino und Friedrich
Christian Delius, zwei Büchner-Preisträgern der jüngeren Zeit. Neben
Ursula Krechel und Katja Lange-Müller, zwei Trägerinnen der
Roswitha-Medaille der Stadt Bad Gandersheim.
Aber genug dieser, im Grunde immer törichten, Vergleiche.
Denn: Annegret Held steht für sich. Und damit steht sie gut da. Aber,
das muss man konzedieren, sie steht auch isoliert da. Wenn sie spricht,
früher war das noch stärker, Jahrzehnte fast in Frankfurt am Main haben
da etwas „abschleifend“ gewirkt, da konnte man meinen, dass sie zugleich
mit ihren Worten auch Kieselsteine im Mund bewegt. Das krachte und
donnerte. Sie kann es noch heute. Doch etwas von dieser Kraft hat sie
auch in ihre Literatur übertragen.
Die Menschen, von denen sie spricht, sie könnten alle Verwandte
von Georg Büchners „Woyzeck“ sein. Der meinte nämlich, wenn er
dereinst, Gott sei es gedankt, in den Himmel kommen sollte, dann aber
doch nur, um „beim Donnern zu helfen“.
Von diesem Schlag sind Annegret Helds Figuren. Menschen aus dem
Westerwald.
Das hat es ihr so schwer gemacht, breitere Anerkennung zu finden. Ihre
Bücher haben Erfolg. Keine Frage. Sie wurden zum Teil, auch erfolgreich,
verfilmt.
Aber Teile der Literaturkritik sehen über sie hinweg.
Da ist noch immer das alte Vorurteil von Heimatliteratur zugange. Da
gilt noch immer die nicht minder schäbige Ansicht von einer „Literatur
der Arbeitswelt“.
Im Falle von „Heimat“ hat Edgar Reitz großes (filmisches) Epos
der Heimat, hoffentlich endgültig, mit solchen Vorurteilen aufräumen
können.
Da ließen sich übrigens viele Parallelen ziehen vom Hunsrück in den
Westerwald. Von den Missernten und Hungersnöten im neunzehnten
Jahrhundert, von gescheiterten und gelungenen Fluchtversuchen, bis in
die Neue Welt.
Und im Falle der „Arbeitswelt“ hat sich das einfach historisch erledigt.
Selbst einer von Peter Handkes „Versuchen“ handelt von einer
Dreschmaschine.
Es sind vor allem vier Romane, die – wohlgemerkt: für mich –
herausragen aus dem Werk von Annegret Held. (Sie wissen, es war, glaube
ich, Gottfried Benn, der es gesagt hat, dass schon drei gelungene
Gedichte die Geltung eines Werks begründen können.)
Es sind also:
- „Die Baumfresserin“, 1999.
- „Apollonia“, 2012,
- „Armut ist ein brennend Hemd“, 2015,
- „Eine Räuberballade“, 2020.
Damit will ich kein Urteil über die vielen anderen Bücher
fällen, die Annegret Held im Laufe der Jahre veröffentlich hat. Ich will
nur sagen, dass sie mit diesen Romanen in der vordersten Reihe unserer
gegenwärtigen Literatur steht.
Im Falle der „Baumfresserin“, ein Buch das vor dreiundzwanzig Jahren
erstmals erschienen ist, lässt sich das (Sie gestatten mir bitte die
kleine Übertreibung!) an einer „Tasse Kaffee“ sichtbar machen.
Es sind die „Kistenweiber“, die in diesen Roman, und zwar als Kollektiv, der „Held“ der Erzählung sind. Frauen, die früh am Morgen in das Sägewerk, die Kistenfabrik, marschieren und abends, nach vielen Stunden schwerer Arbeit, erschöpft nach Hause kommen und TROTZDEM, „trotz alledem“, wie es Ferdinand Freiligrath genannt hat, ihren Anspruch auf ein kleines Glück aufrecht erhalten. Eine dieser Frauen, muss, ich glaube, wegen eines Arztbesuchs, in die größere Kreisstadt fahren, mit dem Bus natürlich. Danach hat sie noch etwas Zeit und da, jetzt kommt der entscheidende Satz, da entschließt sie sich dazu, sich noch – „eine Tasse Kaffee zu gönnen.“
Gönnen, dieses Wort darf man sich auf der Zunge zergehen lassen. Denn da tut sich eine Welt auf, eine kleine, eine ärmliche, miese, eine erbärmliche Welt, die aber eben auch in ihrer ganzen „Miesigkeit“, nicht nur den Anspruch auf Glück, sondern tatsächlich ein kleines Glück enthält. Diese Genauigkeit zeichnet Annegret Helds Schreiben aus.
Und, ganz kurz aus dem schrecklich, schönen, dem großartigen
Roman „Armut ist ein brennend Hemd“, ein Beispiel noch für den
Bildreichtum dieser Autorin:
Nach dem strengen Winter, der großen Hungersnot, den vielen Toten, kam
endlich mit dem Frühjahr die Wärme zurück:
„und überall, wo sie die Toten nur einen Fuß tief begraben hatten,
wurden aus den zerfallenen Särgen die Zipfel der Totenhemden, Ellen und
Speichen und Handknochen herausgeschwemmt (…) und überall
rächten sich die Toten in ihren zerfallenen Hochzeitsgewändern für die
halbherzigen und kraftlosen Begräbnisse des Winters“.
Annegret Held.
Glückwunsch.
