Am 18. September vor 10 Jahren starb der Autor und Publizist Marcel Reich-Ranicki. Er war der bekannteste Literaturkritiker Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Präsenz bei nahezu allen literarischen Wettbewerben, Jurys, Kongressen und seine virtuose, affekt- und effektvolle Nutzung aller Medien, sein redaktioneller Einfluss erst in der ZEIT, dann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schließlich sein provozierendes Auftreten als Protagonist des „Literarischen Quartetts“ im Deutschen Fernsehen trugen ihm den Titel „Literaturpapst“ ein. Eva Demski hat eine ganz persönliche Erinnerung an ihn.
Zu
meinem vierzigsten Geburtstag schenkte mir mein Nachbar Marcel
Reich-Ranicki sein Buch Lauter Verrisse. Mit Tesafilm hatte er über die
handschriftliche Widmung ein tröstendes Goethe-Zitat aus den Maximen und
Reflexionen geklebt:
Gegen die Kritik kann man sich weder schützen noch wehren; man muß ihr
zum Trutz handeln, und das läßt sie sich nach und nach gefallen. Nun
gut, er mußte es ja wissen. Zu der Zeit hatte er zwar Kenntnis von mir
und meiner Arbeit genommen, mich zu allerlei Beiträgen in der FAZ ermuntert, aber mit dem Einordnen tat
er sich schwer. Auch wenn Goethe das Handeln ihr, der Kritik, zum Trutz
empfahl: so wörtlich wollte er, der Papst, es doch nicht genommen haben.
Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich wünschte mir nichts von ihm, erbat
nichts, interessierte mich nicht für einen Job als Teil seines
Sonnensystems. Ich zog ihn nicht zu Rate, erzählte ihm nichts von
Plänen, fragte ihn nicht nach wichtigen oder nützlichen Verbindungen.
In gewisser Weise, die ich erst jetzt, lang nach seinem Tod begreife,
war ich vom Beginn unserer Bekanntschaft und späteren Freundschaft an zu
alt für ihn gewesen. Er hatte sich mit enormem Feuer nach seiner
Jugend, die ihm geraubt worden war, eine zweite geschaffen, in diesem
Papieruniversum Literatur, dessen Bewohnerinnen und Bewohner zum Alter
eine besondere, sehr kindliche Beziehung haben. Als Autor kann man
erstaunlich lang bei den Jungen wohnhaft bleiben, im Haus der Avantgarde
zum Beispiel, aber auch an anderen Orten. Die Vaterrolle spielen die
Verleger, deren Lob ersehnt wird und unter deren anderen Kindern man
herausgehoben sein will.
Das galt auch, wenn der Autor achtzig und der Verleger halb so alt
war.
Ein Kritiker wie Reich-Ranicki konnte in einer solchen Welt seinen
zeushaften Status auf- und ausbauen, mit allen Götterdämmerungen,
Katastrophen und Neugeburten, Liebe und Haß. Der Tod wurde nicht
reingelassen. Die Bühnen waren PEN-Kongresse oder die notorische Gruppe
47, aber auch ehrgeizige Fernseh- und Rundfunksender und all die
Symposien von Paderborn bis Princeton, die man für die Dichter und ihre
Verfolger veranstaltete. Noch immer spielten sich die Dramen in einer
analogen Welt ab, in der sich niemand auch nur vorstellen konnte, daß
eine digitale einst alles übernehmen würde, Bühne, Text, Personal und
Publikum. Dabei war sie gar nicht mehr weit weg.
Ich sah beide Reich-Ranickis oft, Tosia und Marcel, wir luden
uns gegenseitig ein, waren allmählich befreundet miteinander, und ich
hörte aufmerksam zu, wenn er lobte oder tobte. Hinter seinem nach vorn
geworfenen Temperament lauerte still ein kühles Beobachten: Wie weit
ließ das Gegenüber ihn gehen? Wie waren die Reaktionen? Wem wurde was
kolportiert? Sein Vordergrund war intellektuelle Klatschsucht, sein
Hintergrund Diskretion. Er behielt viel für sich. Bei anderen haßte er
Verschwiegenheit und hielt sie für infam ihm gegenüber. Das beeindruckte
mich nicht. Im Klappehalten war ich geübt. Manchmal machte er darüber
Bemerkungen, die auf meine verdächtigen politischen Neigungen zielten.
Faß dich an deine eigene Nase, sagte ich. Kommunist und was nicht noch
alles.
Dann lachte er.
Wir mochten die gleichen Klassiker, standen mit beiden Beinen im
Heine-Lager, Hölderlin ließ uns ratlos. Er machte aus seinen Abneigungen
Pamphlete und liebte unpassende Gelegenheiten, zu denen er sie
herauskrähen konnte. Der Bad Homburger Hölderlin-Preis vor Jahrzehnten
war so eine: Zum Schluß seiner sogenannten Laudatio waren
Preisnamensgeber und Preisträger völlig zerfleddert, und der
Oberbürgermeister wahrte nur mühsam seine Fassung.
Zeit seines Kritikerlebens hat er, glaube ich, eine Experimentalreihe
durchgeführt, als deren Ergebnis er die Mängel der Branche notierte.
Devotheit, Ruhmsucht, Geldgier, Kleingeistigkeit und Mangel an
Solidarität, Verrätertum. Und nicht zuletzt, immer und immer wieder,
Mangel an Begabung. Oder an Ernsthaftigkeit, Durchhaltevermögen. Und,
bei ihm ein todeswürdiges Verbrechen: Mangel an Unterhaltsamkeit.
Langeweile hieß seine Vorhölle. Dafür wurde er gehaßt, verachtet und
umschwärmt. Wie ein Kind konnte er über die Hartnäckigkeit staunen, mit
der manche Literaten ihm ihren Unmut nachtrugen. Sie waren trotz allem
seine Götter, das wußten sie doch! Er machte beileibe nicht das gleiche
mit ihnen, im Gegenteil: Neues Spiel, neues Glück! Und dieses Spiel war
viel zu spannend, als daß man nachtragend sein durfte.
Es war seine Welt, sie war sein Seinsgrund und seine einzige
Existenzform, er liebte sie und wußte um ihre Dekadenz, nicht ohne sie
auszunutzen und sich ihrer zu bedienen. Teile und herrsche!
Gegen Verführungen war er überhaupt nicht immun und sammelte in seinen
späteren Jahren Ehrendoktorate wie Schutzbriefe gegen die lebenslange
Kränkung, daß ihn keine Akademie hatte haben wollen. Irgendwelche
Medaillen, Porzellanfiguren oder sonstigen Staubfänger minderer Herkunft
waren ihm suspekt, das goldene Reh aber nicht. Er wollte geliebt
werden, respektiert, verstanden und nicht zuletzt geehrt. Im übrigen
gehörten gute Honorare zur Ehre, man war entweder teuer oder Benefiz,
dazwischen gabs nichts.
Ich wohnte nicht dauernd in dieser Welt, war nur gelegentlich und mit
vielen Vorbehalten im Papieruniversum zu Besuch und stieß mir trotz
aller Distanz gelegentlich die Schnauze blutig, wie nicht anders zu
erwarten.