Wie nach einem Kochrezept sind sie verfertigt, die Romane mit den selbstähnlichen Familiengeschichten. Nur die Zutaten variieren. Und das Erstaunlichste ist die Gier, mit der das Immergleiche immer neu gekauft wird. Hoch im Kurs stehen die autobiografischen Werke, deren Wert in einem trivialen Realismus gesehen wird. Kerstin Lücker ruft zu mehr Phantasie auf, setzt ein Projekt in die Welt und bittet um Mithilfe.
Über
Wohl und Wehe autofiktionaler Literatur wird viel gestritten. Dabei
sind die Werke, die das Label verdienen, nicht mal ansatzweise über
einen Kamm zu scheren. Zu unterschiedlich sind sie nicht nur der
literarischen Qualität, sondern schon der Definition nach: Was ist
eigentlich Autofiktion?
In den 1960er Jahren verkündete die Literaturtheorie den „Tod des
Autors“: man suche, so die These, in literarischen Werken zu sehr nach
autobiografischen Spuren und verschließe sich damit einer Vielfalt an
Deutungen, die eine rein textgestützte Interpretation eröffne. Heute ist
das Autobiografische umso stärker zurück, nicht nur als Grundlage einer
von mehreren Interpretationsmöglichkeiten, sondern als kaum oder gar
nicht mehr gezielt fiktionalisierte Erzählweise, die spätestens mit dem
Nobelpreis für Annie Ernaux höchste literarische Weihen erhielt. Dabei
kann man sich in vielen Fällen fragen, ob sich das literarische Erzählen
autobiografisiert und damit zur oft beklagten Autofiktionsschwemme
beigetragen hat, oder ob heute lediglich anders etikettiert wird als
früher. „Romane“ von Karl-Ove Knausgård, Édouard Louis oder
Schauspielern wie Edgar Selge und Jörg Hartmann stehen neben den
„Autobiografien“ von Goethe (Dichtung und Wahrheit)
und Canetti (Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das
Augenspiel). Aber handelt es sich nicht bei allen um – wenn
auch verschiedene – Erdbeermarmelade?
Wenn sich das Selbst von Autorinnen in die literarische Erzählung einschreibt, geschieht das aus unterschiedlichen Gründen. Autoren wie Michael Chabon – um nur einen zu nennen – betreiben es als Spiel mit der Tatsache, dass Erinnerungen trügerisch sind, wir also nicht wissen, wie etwas „wirklich war“. In Moonglow lässt Chabon sich von seinem Großvater am Sterbebett frei Erfundenes erzählen, da, wie er im Guardian 1 erklärt, jede Erinnerung Fiktion sei – in Abwandlung eines Diktums des Historikers Hayden White. „Clio dichtet“, behauptete White, auch die historische Erzählung sei nichts als Fiktion, weil sie die vorgefundenen Zeugnisse der Vergangenheit in Narrative binde, die gar nicht anders können, als zu verfälschen und zu verzerren – weshalb „Geschichte“ nie als „wahre“ Darstellung der Ereignisse gelesen werden dürfe.
Tatsächlich aber täuschen uns White und Chabon, indem sie die
literarische Erfindung mit der notorisch unzuverlässigen Erinnerung
gleichsetzen, mit einem billigen Zaubertrick. Keine einzige Figur im
Tableau der Historie, kein Ort, kein Ereignis darf frei erfunden sein,
die historische „Fiktion“ gründet auf den immer gleichen Bausteinen,
deren Echtheit sie ständig neu überprüft, während die Fiktion alles
darf: Nur hier können Pferde Flügel haben oder ein einziges Horn auf der
Stirn. Was wir uns über unsere Vergangenheit erzählen, mag immer
falsch, aber es sollte nie erfunden sein. Sich lückenhaft erinnern,
fehlerhafte Schlüsse ziehen, Dinge übersehen, missachten – all das hat
nichts mit Erzählungen gemein, die der Fantasie entspringen. Ersteres
kann bezweifelt, korrigiert, neu interpretiert werden, letzteres bedarf
dieser Korrektur gar nicht. Wir können davon träumen, dass eine Uhr mit
dem Vergehen der Zeit physisch zerfließt, bis sie unförmig über einem
kargen Ast hängt. Wir werden diesen Vorgang aber vermutlich niemals mit
den eigenen Augen beobachten.
Natürlich dient die literarische Verarbeitung persönlicher Erfahrungen
nicht zwingend oder nicht allein dem Spiel mit der Unzuverlässigkeit von
Erinnerungen. Vielmehr stellt sie Abstand zur eigenen Erfahrung her –
zwischen der Autorin und ihrem Text auf der einen und den Leserinnen auf
der anderen Seite. Anders als die Geschichte darf die Kunst jede
tatsachengestützte Wahrheit um einer höheren Wahrhaftigkeit willen
hinter sich lassen. Trotzdem ist die Beobachtung wohl nicht von der Hand
zu weisen, dass Autorinnen sich heute vermehrt einem
Wirklichkeitshunger 2 der Öffentlichkeit
ausliefern, und es gibt es Autoren, bei denen zu bezweifeln ist, ob sie
literarisch bestehen würden, wenn sie nicht ihre eigene Geschichte
verkauften, oder sagen wir, wenn sie sie weniger vordergründig
ausleuchten würden.
Sofern man den Buchmarkt nicht als alleinige Triebkraft für diesen Trend
verantwortlich machen will, könnte man zumindest festhalten, dass das
Genre vielleicht auch von einem durch Social Media gesteigerten
Bedürfnis vieler befeuert wird, vor allem sich selbst zu spiegeln.
Weshalb es vielleicht an der Zeit ist, die Sache einmal ganz auf den
Kopf zu stellen: Warum eigentlich enthält vieles, was als Auto-Fiktion
verkauft und gelesen wird, so wenig Erfindung? Wo sind die Einhörner in
den fiktionalen Autobiografien? Wie sähen sie aus, literarische Selfies,
die alle Freiheiten der Kunst als unendlich verlängerbaren Arm nutzen,
nicht, um sich so nah wie möglich, sondern mit größtmöglicher Distanz zu
porträtieren? Mein Leben als Märchen, als Heldinnen-Epos, als
Science-Fiction-Roman? Meine Lebensgeschichte als alternative Historie,
als Traumbiografie?
Sollten wir nicht in der Autofiktion mehr Fiktion wagen?
Gesucht: Die Kaiserin von China
Wir bitten Autorinnen und Autoren um frei erfundene
Selbstporträts; gezeichnet nach allen Regeln der literarischen Kunst.
Möglichst kurz, als Beiträge zu einem Sammelband.
Herausgegeben von Kerstin Lücker & Claudia Woldt.
Felicitas Hoppe, Erfinderin der Autobiografie
Hoppe, übernimmt die Patenschaft.
Beiträge an [email protected]
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1 https://www.theguardian.com/books/2017/jan/27/
michael-chabon-interview-books
2 https://www.zeit.de/
kultur/2023-12/dan-sinykin-big-fiction-konzerne-verlage-
literaturbranche