Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
An
Rilke zum Beispiel, Rainer Maria Rilke, der als Dichter am liebsten „so
leicht wie ohne Namen“ lebte, jenseits der üblichen Pflichten und
Exempel, was wir sympathisch finden, weshalb wir auch über seinen
zweiten Vornamen nichts Nachteiliges sagen möchten, obwohl wir uns dran
erinnern, dass Rilke selber damit seine Probleme hatte, weswegen er,
beispielsweise, um sämtliche Marienverehrungsveranstaltungen einen Bogen
machte, weil er dabei nicht selten in ein inneres Beben, eine
anhaltende Rührung über sich selbst geriet; dann stiegen ihm die Tränen
in die Augen, und er hörte melodischen Singsang und Lobpreisungen auch
dort, wo nur normale Erfahrungs- und Befindlichkeitssätze, Dienst- und
Tagesbefehle, Wetter- und Wasserstandsmeldungen sowie die üblichen
Unfreundlichkeiten ausgetauscht wurden, von denen unser freudlos
gewordenes Dasein nur so wimmelt. Damit, mit seinem Hang zur
vorschnellen Ergriffenheit, musste er leben, Rainer Maria Rilke, der
nicht nur ein höflicher, sondern auch ein wortmächtiger Dichter war, der
die Mittel der Poesie so gekonnt zu handhaben wusste wie der geübte
Zahnarzt den Bohrer. Einer wie Rilke geht uns heute ab, da die Poesie in
einer Literatur aufgegangen ist, die sich am Neuen Markt platziert
sieht, was gerade wir aber nicht zu beklagen haben, denn die Zeiten sind
nun mal so, wie sie sind. Wir erinnern uns noch, wie Rilke, damals,
einen seiner vielen, vielen Briefe schrieb, an dem Kunden Rilke hat die
Post, damals, ordentlich verdient; im Pariser Café
Humberto sitzt er, ein eher kleiner, fast verhuscht wirkender
Mann, dem dennoch beträchtliche Wirkung auf alle empfindsamen und
feinfühligen Frauen nachgesagt wurde, von denen es, damals schon, so
viele gab, dass es allen empfindsamen und feinfühligen Männern zuviel
wurde, und er schreibt, der Rilke, ein Glas preiswerten Cognac vor sich,
schreibt, wobei er gelegentlich müde aufschaut und drei rötlich braune
Zweige beäugt, die auf dem Tisch liegen; hatte der Wirt, besagter
Humberto, ein ehemaliger Jahrmarktsringer, diese vertrockneten Zweige
etwa schon bei der Gründung seines Etablissements im Mai 1904 auf dem
Tisch abgestellt und gleich danach wieder vergessen, fragten wir uns,
aber es stellte sich ja dann wohl heraus, dass sie ein Geschenk, ein
Souvenir von Rilkes Frau Clara waren, die bei Worpswede in der Heide
wohnte und sich so lange als einsame Bildhauerin betätigte, bis es für
sie nichts mehr zu bilden und zu hauen gab. Rilke, ein erschöpfter Poet,
bedankt sich, was indes kein gewöhnlicher Dank ist, sondern Briefpoesie
in Reinform, die alles verwenden, verwerten, verdichten kann, womit
schon gesagt ist, dass der wahre Dichter immer auch ein
Recycling-Künstler sein muss, der allenfalls etwas vergessen, aber
nichts wegwerfen darf, weswegen die braunen, grünen und blauen Tonnen
seiner Dichterseele stets fein säuberlich leer bleiben müssen. »Niemals
hat mich Heide so gerührt und beinahe ergriffen«, lasen wir damals in
Rilkes Brief, wir durften ihm ja, freundlicherweise, ein wenig über die
schmale Dichterschulter schauen, »und seither liegen sie in meinem Buch
der Bilder und durchdringen es mit ihrem starken ernsten Geruch, der
eigentlich nur der Duft herbstlicher Erde ist… Aber vermutlich
macht mich auch der überstandene Stadtsommer so empfänglich für die
Pracht der Heidestücke, die aus dem Aufwand des nördlichen Jahres
stammen. Man hat wohl nicht umsonst so einen Zimmersommer durchgemacht,
wo man untergebracht ist wie in der kleinsten von jenen Schachteln, von
denen immer eine in die andere passt, – zwanzigmal. Lieber
Gott: Was hab ich voriges Jahr gewirtschaftet; Meere, Parke, Wald und
Waldwiesen; meine Sehnsucht nach alledem ist manchmal unbeschreiblich.
Jetzt, da es hier schon mit dem Winter droht. Schon fangen die
Dunstmorgen und Abende an, wo die Sonne nur noch wie die Stelle ist, wo
früher die Sonne war, und wo in den Parterres alle die Sommerblumen, die
Dahlien und großen Gladiolen und die langen Reihen der Geranien den
Widerspruch ihres Rots in den Nebel schreiben. Mich macht das traurig.
Es bringt trostlose Erinnerungen herauf, man weiß nicht, warum; als
ginge des Stadtsommers Musik mit einer Dissonanz aus, mit einem Aufstand
aller Noten; vielleicht nur, weil man das alles schon einmal so tief in
sich hineingesehen und gedeutet und mit sich verbunden hat.«
Erinnern Sie sich?
ERINNERN SIE SICH?