SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. David Eisermann ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Schlaflosigkeit und Erinnerungen suchen ihn an diesem Tage heim, Todesfälle und Obstkuchen, der letzte König von Bayern und Margot Käßmann, die Verwandten und eine taiwanesische Autorin fallen ihm ein: Früchte des Tages.
Bonn, Sonntag, 10. Juli 2022
1.08 Uhr
Aufgewacht. Der Gedanke an die taiwanesische Autorin, die ich abends vom
Literaturhaus in ihr Hotel zurückgebracht hatte. Wie sie darunter
gelitten hat, daß ihr deutscher Freund (für den sie nach Berlin gezogen
war), die Treffen mit ihr vor seiner Frau und den Kindern um jeden Preis
geheim halten wollte. Die Waschungen, wenn er sich hinterher schier
endlos geduscht und abgeseift hat. Ihre gebrochene, enttäuschte
Sehnsucht.
2.44 Uhr
Aufgewacht. Geschrieben. Kaffee gekocht. Lektüre. Entwürfe: gestern das
Schild, weiße Schrift auf grünem Grund. Schönauer Weiher. Die
Wasserfläche stellt eine Teichanlage dar. Baden nur auf eigene Gefahr.
Das Grundstück dient zum Ausruhen, Erholen und Spielen. Jeder hat sich
so zu verhalten, daß niemand belästigt oder behindert wird. Gemeinde Bad
Heilbrunn.
„Das habe ich alles so nicht gewußt“, schreibe ich ihr. „Was Du schreibst, beeindruckt mich tief. Vieles empfinde ich wohl ähnlich wie Du. Neugierig bin ich allerdings. Aber auch vorsichtig. Paradox am künstlerischen Arbeiten ist die Notwendigkeit, sich die eigene Sensibilität erhalten zu müssen (ohne die es kein künstlerisches Arbeiten gibt), was einen um so verletzlicher macht, um so mehr man sich öffnet.“ Dann: „Wir sind keine 80 Kilometer von Innsbruck und knapp 60 Kilometer von München entfernt. Hier ragt die Benediktenwand in den Himmel. Sonst nichts. Unsere liebe Freundin hat uns vor fünf Tagen an dem kleinen Klosterbahnhof abgeholt. Hier gewinne ich Abstand und kann mich doch den Freunden nahe fühlen.“ Wioleta, die Mutter als Pflegekraft begleitet hat und von weither zur Trauerfeier und Beerdigung angereist war, schickt mir per WhatsApp Worte, für die ich gerade sehr dankbar bin: „Du mußt stark sein. Die Schmerzen werden langsam leichter. Deine Eltern sind jetzt glücklich zusammen. Für mich bleiben sie immer in meinem Gedächtnis. Paß gut auf dich auf.”
Wann geht in Benediktbeuern am 10. Juli die Sonne auf? Um 5.27 Uhr. Der Blick auf die so heftig grüne Wiese, die Bäume mit den starken Stämmen, die leuchtende, tiefstehende Sonne. Der Blick auf das Foto: Mutter, noch sehr lebendig, sehr ernst, schön frisiert und angezogen, mit dem guten Bruder am Tisch im Ausflugslokal. Mutter trägt eine blaue Bluse mit weißen Punkten und ihr schwarzes Medaillon, auf dem groß der Buchstabe H erscheint – für Honigmann, die Familie ihrer in Antwerpen geborenen Mutter. Großmutter Ada Honigmann trug es, als sie mit 47 Jahren bei Tisch tot zusammengesunken ist. Adas Tochter Carla soll es ihr dann vorsichtig abgenommen haben – auf Geheiß ihres Vaters Ernst. Auf dem Foto erscheinen die Augen meiner Mutter und die des Bruders ganz hell, nicht ganz dunkel – wie meine.
12.49 Uhr
Mehr als eine Stunde Schlaf (bin ja seit 2.44 Uhr wach). Erst nach
vollständiger Erschöpfung habe ich mühsam lernen müssen, mich zu
schützen. Ein alter Freund von mir, mit dem ich beruflich viele Jahre
verbunden war, ist von seinen Geschwistern so gehetzt worden, daß er an
seinem 61. Geburtstag einen monströsen Infarkt hatte und nach langer
Reha jetzt schon fast vier Jahre im Pflegeheim lebt. Es ging ums Erbe.
Nun ist er dauerhaft halbseitig gelähmt.
15.49 Uhr
Bedeckt. Grauer Tag im Juli. Wir besuchen das vertraute Café. Die beiden
Frauen: grüne Jacke, blaue Jacke. Die Freundin mit ihrer vielleicht
zwanzig Jahre älteren Kusine. Wir sitzen ihr gegenüber. Sie hat ihr
Leben lang einem katholischen Pfarrer den Haushalt geführt. Keine Ehe,
ein wenig aber doch. Sie hat ihn sich erzogen und gut auf ihn Acht
gegeben. Jetzt ist er schon lange nicht mehr am Leben. Es gibt
Obstkuchen mit diversen roten Früchten: Kirschen, Himbeeren,
Walderdbeeren. Oben ein Stückchen Kiwi. Krokantsplitter. Auf einem
Bierdeckel ein Abbild des letzten Königs von Bayern. Blaue Augen hinter
einer Schubert-Brille. Graues Haupthaar, der graue Bart weder sonderlich
akkurat geschnitten noch gekämmt. Ein wenig erinnert er mich an den
Architekten, von dem ich in Poppelsdorf mein Studentenzimmer gemietet
hatte. Im Kreis um das Portrait des Königs steht: König Ludwig III. Prinzregent von 1912 bis 1913. König
von Bayern von 1913 bis 1918.
Im Kellergeschoß werden selbstgemalte Bilder ausgestellt. Das humorvollste zeigt drei Frauen in Tracht, „Benediktbeurer Beauties“ und kostet hier im Café Lugauer 290 Euro. Jede hat einen kleinen roten Blumenstrauß, rot wie die Waldfrüchte der Obsttorte. Gemusterte Schürzen, Dirndl mit dunklem Rock, weiße Schals mit Fransen umgelegt. Augen weit aufgerissen. Leicht irres Lächeln. Steckfrisuren. Ganz eigenartige Volkskunst: Stolz auf sich selbst. „They’re Bavarians to their hearts‘ delight“, wie ein amerikanischer Freund es mal ausgedrückt hat. Was den Menschen in Nordrhein-Westfalen deutlich abgeht.
17.36 Uhr
Im ARD-Text lese ich, die
evangelische Theologin Margot Käßmann habe die kirchliche Trauung von
Finanzminister Christian Lindner und einer rehrückenartigen Person
kritisiert. Irgendwie hat sie es mit den Studienfächern Hotelmanagement
und BWL an einer Hotelfachschule
in der Schweiz und der RTL-Journalistenschule zur
Politik-Chefreporterin bei der Tageszeitung „Welt“ geschafft. Der
Minister und sie waren als Jugendliche in Nordrhein-Westfalen noch
katholisch, gehören schon lange keiner Kirche mehr an und hatten
unlängst einen vielbeachteten Fototermin in einer aufgelassenen, vormals
evangelischen Kirche auf Sylt, bei der Peter Sloterdijk eine Art
Predigt gehalten haben muß. „Weshalb wünschen zwei Menschen eine
kirchliche Trauung, die bewußt aus der Kirche ausgetreten sind, ja
öffentlich erklärt haben, daß sie sich nicht als Christen verstehen?“
fragt sich Käßmann, die frühere EKD-Ratsvorsitzende. Dafür sollte sich die
Kirche aber nicht hergeben.
20.43 Uhr
Ich lege mich hin. Bin völlig erschlagen.
22.59 Uhr
Wieder wach. Ich sehe mir das Foto an, das sie mir vor Jahren auf
Threema geschickt hatte. Da trug sie Jeans. Im Sitzen hat sie ihre linke
Hand fotografiert, die sie leicht auf die Knie und Oberschenkel gelegt
hat, die Fingernägel leuchtend rot und an den Fingern ihre Ringe, am
Mittelfinger drei – ein Signal und vertrautes Zeichen. Faß mich doch
einmal an. „Der Glaube ist ein krankes Kind, die Liebe ist ein Biest“,
lese ich bei Dörte Hansen. „Die Hoffnung ist nicht totzukriegen. Die
Sehnsucht auch nicht, jedenfalls nicht ganz.“