SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Gundega Repše ist eine von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Der russische Krieg gegen die Ukraine zielt auf Menschenvernichtung, Landverwüstung und Kulturzerstörung. Gewalt gegen Wehrlose, Kinder und Alte, – dem Wissen darum in Hilflosigkeit gibt die lettische Schriftstellerin Ausdruck.
Riga, 10. Juli
Sonnenaufgang. Der Hund schläft noch. Ich schleiche mich hinaus, denn ich höre Kraniche mitten im Hof rufen. Doch anscheinend signalisieren ihnen Bodenvibrationen, dass die, die sich da auf Zehenspitzen heranpirscht, zu der furchtbaren Spezies Mensch gehört. Drei Kraniche breiten vor meiner Nase die Flügel aus und fliegen davon, ihre glatten, hellgrauen Bäuche in majestätischer Stromlinie. Der Tag beginnt wie ein Geschenk. Aber die Sonne färbt das Weizenfeld rot, und ich denke daran, dass in der Ukraine die russischen Besatzer solche Felder bombardieren, die Frucht verbrennen, um den Hunger in der Welt zu fördern. Ich befinde mich in einer unfass-bar rauen Wirklichkeit, und Kraniche können daran nichts ändern.
Ich komme nicht runter vom Gefühlsvulkan, der ausgebrochen ist, als mir klar wurde, dass das Absolute Böse keine Abstraktion ist, sondern banalste, entsetzlichste Realität. Jeder Morgen hämmert mir, wenn ich mich mit dem Erdenleben verbinde, in den Kopf: Die zivilisierte Welt ist eine Illusion. Der Mensch ist entartet in seiner Apathie, seinem Verbraucherwahn, seinem Egoismus, seiner Gier und gibt sich der Barbarei hin, mordet und vergewaltigt Kinder, legt Städte in Trümmer, zerstört die Motivation, die Kultur, Kunst, Musik Sinn gibt. Denn der Krieg geht weiter, die ganze triumphale Vergötterung der Technologie ist machtlos gegen das Absolute Böse, gegen den Terroristenstaat Russland. Die zivilisierte Welt hat dieses Reich des Bösen jahrzehntelang gepäppelt und sich dabei korrumpiert, versunken in krankhaft nostalgischen Vorstellungen von der speziellen russischen Seele. Ich möchte an etwas anderes denken, doch nichts anderes hat wirklich Sinn, solange das Böse nicht ausgerottet wird. Daher ist meine Sehnsucht eine Weltordnung, die alle Waffen vernichtet und einen jeglichen Menschen und einen jeglichen Staat verurteilt, der sich das Recht herausnimmt, über Leben und Sein von anderen zu bestimmen. Meine Sehnsucht ist ein grüner Regen und ein nicht zu bremsender Wind, die gleichzeitig waschen und weinen.
Ich höre, dass viele Schriftsteller nicht mehr schreiben. Keine Motivation, kein Sinn. Die Illusion von der erlösenden Kraft der Kultur ist in sich zusammengebrochen. Auch mir geht es so, und jedes Narrativ ist geheuchelt und muss scheitern. Schon lange sind es Psychologen und Psychotherapeuten, die Trost spenden, nicht Verseschmiede und Schriftsteller. Die sind an die Peripherien der Unterhaltungsgenüsse gestoßen worden. Und dennoch sehe ich, wenn ich mich nicht an den selbst gezimmerten Rahmen halte, wie die Worte fließen – wie Quellen in der Wüste –, und es ist wieder die Hand und nicht die Computertastatur, die Buchstabe an Buchstabe reiht. So bin ich zurzeit. Ich halte mich an meine Hand und vertraue mir, erlaube den Buchstaben, Silben und Wörtern zu fließen – später dann, wenn es denn ein Später geben wird, werde ich mir ansehen, was das war und ist. Meine Handschrift im Universum.
Den ganzen Nachmittag mähe ich Rasen. Ich habe sehr viel davon.
Ich habe gehört, dass jetzt „natürliche Wiesen“ modern sind, doch als
ich letzten Sommer beim Haus ein ungepflegtes Büschel mit Johanniskraut,
Disteln, Beifuß, Schafgarbe und Rispengras stehenließ, fühlte ich mich
wie ein Narr, der nach einem Festmahl eine Ecke des Tischs nicht
abräumt, damit kommende Generationen etwas zum Bestaunen haben.
Die Nerven versagen, und schon habe ich mich mit einem unbekannten
ukrainischen Soldaten identifiziert, der die Besatzer hinausjagt. Nur
vorwärts, vorwärts! Ich brülle wie eine Löwin auf den Hinterbeinen. Der
Schweiß läuft mir in die Augen, beißt, ich verliere die Orientierung.
Ich weine nicht, nein, denkt das nicht; es wird heiß, wenn man sich so
abmüht und die Gedanken nicht verdampfen lassen kann. Dann kehren sie in
die eigenen Augen zurück.
Ein Hochsommerabend. Die Linden blühen. Bienen gehen ihren Geschäften
nach. Hummeln und Hornissen desgleichen. Es gibt Raum genug für alle.
Die Sehnsucht seift den Körper ein, und ich springe in den Teich. Eisig
kalt. Wie das Zeitalter, das in Europa angebrochen ist.
Aus dem Lettischen von Nicole Nau