SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Inzwischen sind sie auch als Buch erhältlich. Johanna Hansen ist eine von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Ein Traum löst in ihr die Erinnerung an die Großmutter aus, deren Mutter von der Insel Nordstrand stammte. Die Beschäftigung mit einer Engelsskulptur verweist auf die eigene Position als Künstlerin in unserer Zeit, das Licht und die Perlen an der Blusenmanschette einer Freundin an Vermeer. Der Tag führt alle Aspekte zusammen in den Abend hinein.
Düsseldorf, 10. Juli 2022
7.30 Uhr
Meine Großmutter hat mich heute Nacht im Schlaf umarmt, bevor sie sich
in Dunst auflöste. Ich musste mich ohne sie in der Welt zurechtfinden.
Öffnete im Traum die Tür zu einem Raum, durch den eine Landstraße
führte, die sich in fernem Brandungsrauschen verlor.
Die Sehnsucht nach dem Meer hat meine Großmutter mir vererbt. Ihre Mutter stammte von der Halbinsel Nordstrand bei Husum, war weit weg von zu Hause an den Niederrhein verheiratet worden und starb elf Kinder später, ohne ihre Heimat wiederzusehen. Die Hochzeit war von einem Pfarrer arrangiert worden, der für ledige Bauern und Gutsbesitzer am Niederrhein Ehefrauen suchte. Meine Großmutter gab das Heimweh ihrer Mutter an mich weiter. Ich atmete die Seeluft ihrer Erzählungen. Alles hab ich mir davon geborgt. Jedes offene Ende. Die Weite. Die Farben meiner Verse. Vor allem die der Sehnsucht.
10 Uhr
Nach dem gestrigen Telefonat mit einem Händler für Galeriesockel und
Bildhauerwerkzeug, steht die Entscheidung für das Podest fest. Es wird
ein Meerespfahl aus unbehandelter Eiche. Das durch Meerwasser gebleichte
Holz hat einen Grauton in der Farbe der Engelskulptur: Ein
Bronzerohguss mit lediglich einem goldfarbig polierten Flügel. Der
andere bleibt mattgrau wie der Torso. Mit dem Entwurf des Engels hatte
mich vor ein paar Jahren ein kunstliebendes Paar beauftragt. Für den
Eingangsbereich seines Hauses wünschte es sich eine Engelsskulptur als
Wächter. Ich hatte freie Hand. Modellierte aus Ton ohne Vorzeichnungen
Entwürfe für die Plastik. Beim Brand verloren etliche Modelle ihre
Flügel, weil ich sie nicht gut genug befestigt hatte. Deshalb vergoldete
ich die Bruchkanten und Flügelreste. Mir gefielen die flügellosen Engel
sogar besser als die, die den Brand unversehrt überstanden hatten. Nun
lasse ich den Engel noch einmal für mich abgießen. Der Auftrag damals
hat mich über die Symbole der Hoffnung nachdenken lassen, mit denen ich
aufgewachsen bin. Sie gehörten vor allem zum katholischen Kosmos. Längst
habe ich mich davon verabschiedet. Trotzdem entstanden im Laufe der
Zeit immer wieder engelähnliche Schutzwesen auf dem Papier. Sie scheinen
aus dem erlernten Kanon von Schuld, Scham und Sühne herauszufallen. Als
Kind hielt ich Falter für die sichtbare Seite der Engel.
Kindheitssommer. Auf der Wäscheleine im Garten weiße Laken, aus denen ich mir Ärmelschoner von Engeln fantasiere. Damit wischen sie Gold von den Deckenfres-ken und bestickten Altartüchern der Kirche, die mich Tag und Nacht bewacht. Mich hab ich ins Flattern der Engel gelegt bis zum Mund, kauere darin wie in einem Kokon aus Zischlauten. Es ist heiß, die Stunden, in denen das Durcheinander der Töne Ab-drücke hinterlässt, verfangen sich im Schwung einer Harke auf dem Kiesweg. Der Garten: eine akustische Tastatur, schmeichelnd, scheuernd, sirrend, flirrend. Ich schaukle bis in den Pflaumenbaum, springe am höchsten Punkt aus der Schaukel, fliege ein paar Sekunden lang durch die Luft und lande im Kartoffelbeet.
Erst abends kommt Gott vorbei, um wieder in sein Kaleidoskop zu schauen und ein paar Sachen zu viel in meine Lunge zu werfen. Im Schatten, den sein Blick auf mich wirft, ducke ich mich weg.
11 Uhr
Besuch aus München. Nelia ist wegen eines Seminars in Düsseldorf und
macht einen Abstecher bei mir. Wir sitzen uns am langen leeren Tisch
gegenüber und sprechen über Psychoanalyse und Kunst als unterschiedliche
Methoden der Erkenntnis. Vor einem Jahr sind wir uns das erste Mal
begegnet. Heute ist es das zweite Treffen. Nelia ist mir vertraut, als
würden wir uns schon lange kennen. Sie trägt eine weiße Bluse mit langen
Ärmeln, in denen Perlen als Manschettenknöpfe stecken. Im rechten
Blusenärmel baumelt die zweite Perle des Manschettenknopfs bei jeder
Bewegung des Arms. Vielleicht hat Nelia vergessen, die Perle durchs
zweite Knopfloch zu ziehen. Vielleicht hat sich der Verschluss zufällig
gelöst. Ich würde Nelia gern fragen, ob ich diese Unregelmäßigkeit
zeichnen darf. Aber dazu reicht die verbleibende Zeit bis zu ihrer
Abreise ohnehin nicht. Der eigenen Hand beim Zeichnen/Schreiben zu
folgen: Das war bis jetzt der schmale Balken, der mich trug.
15 Uhr
Claudia kommt vorbei, um mit mir über die geplante Dokumentation zu
sprechen. Sie wird den Fertigungsprozess der Skulptur in der Gießerei
fotografieren und zusammen mit Fotos der verschiedenen Entwürfe, kurzen
Texten und farbigen Zeichnungen/Skizzen als Buch gestalten. Ohne
Claudias Blick als Fotografin und Grafikerin auf ästhetische Belange
wäre ich nicht auf die Idee gekommen, den Entstehungsprozess der
Bronzeskulptur in Wort und Bild festzuhalten. Ihr Interesse an meiner
Arbeit, ihre Neugier, ihre Art zu fragen, sind ein Glück. Wir trinken
Tee und essen Nussecken und Mandelhörnchen. Es ist so warm, dass
Schokolade an unseren Fingern kleben bleibt.
18 Uhr
Im Laufe des Tages ist mir klar geworden, dass ich den Engel nicht
zufällig gerade jetzt für mich gießen lasse. Der Krieg in der Ukraine,
die spürbaren Auswirkungen der Klimakrise, die Flüchtlingsströme und die
Pandemie stellen die Mittel meiner Arbeit immer radikaler in Frage. Ich
begriff sie bisher als Gegenbewegung zu den Zumutungen des Alltags, den
Naturkatastrophen, Kriegsschauplätzen. Jetzt bin ich an vielen Tagen
sprachlos, desillusioniert, gehe mit Ohnmachtsgefühlen durch die
versteppende Landschaft. Die aus zwei Teilen zusammengefügte Plastik hat
im Rohzustand eine Verbindungsstelle; eine ca. 5 cm breite goldene
Schweißnaht. Sie verläuft unterhalb des Rippenbogens, genau dort, wo
über meinen eigenen Brustkorb eine feine blaue Linie verläuft. Eine
Folge meiner langjährigen schweren Atemnot. Plötzlich wird die
Entscheidung klar, die ich treffen muss. Ich werde keine Farben,
Skizzenbücher, Pinsel und Stifte mit in die Cité Internationale des Arts
nach Paris nehmen. Nichts von dem, was mich so viele Jahre ausmachte,
werde ich für den zweimonatigen Aufenthalt dort einpacken. Es ist Zeit,
wieder einmal mit leeren Händen irgendwo anzukommen und herumzugehen.
18.30 Uhr
Youtube einschalten. Meeresrauschen wählen. Die Augen schließen. Auf dem
Boden liegen. Zuhören.
Dorthe (1861-1931)
wenn ich wie du mit einem fuß auf dem salzverkrusteten
schlickschlitten mit dem anderen mich abstoßend vom
boden übers watt glitte. ohne im labyrinth kindheit zu
stranden. wenn du mir sagtest. glaub mir. du musst nur
lange genug üben. wenn ich mich nicht angesteckt hätte
von einer mangelerscheinung oder einer liebeskrankheit.
über mehrere generationen zärtlich weitergereicht. erinnerte
ich mich an meinen leergeatmeten mund und an den langgestreckten
hals der vogelkoje. wo drei singschwäne sich für everybody über
die heckenrosen hundsrosen schwangen. wenn ich ihren gesang
auswendig lernte. das schilf. die taustundenbläue. ans haff nun
fliegt die möwe und dämmerung bricht herein. bei ebbe nach
strucklahnungshörn. I am walking in the same way durch die
priele und übern deich. du. direkt vor mir. in löwenzahnbuchten mit den
händen die milchige haut der schafkälte abschöpfend. wenn
bei rungholt der abend auf muschelbänken vergraute. und wir
ablagerungen des winds auf den wellen wären. blitzende
blütenmanschetten knorpeliger obstbäume. wüchsen sie durch die
lückenlose zukunft. die du nachts im kuhstall vergeblich am spinnrad
zerrupftest. hometown glory. stroh zu gold. trugbilder auf dem
scheitelpunkt der flut tanzte der vollmond. niemals für gott und die welt
würde dich ein für allemal loswerden wollen. was bliebe dir anderes als
schäumende sprachlosigkeit….
22 Uhr
Ein Sonnenuntergang am Rhein, der den Tag in Pastelltöne taucht. Junge
Leute tanzen Tango auf der Promenade.
Der Abend hat die Qualität des Lichtes in den Bildern eines
Vermeers. Er konnte die Welt anhalten in einem Perlenohrring. Bis
hierher. Und immer weiter.
(Anmerkung. Der Text enthält Teile aus einem unveröffentlichten Manuskript, eine Gedichtzeile von Theodor Storm: Ans Haff nun fliegt die Möwe….und Fragmente aus einem Song von Adele)