SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. David Eisermann ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von faust-kultur aufgenommen wird. Natur und akademisches Leben der Vergangenheit und der Gegenwart hält er fest. Und die bedenkenswerte Begegnung mit dem Alter.
10
Uhr
Anruf aus Hannover. Es geht um ein Gespräch mit dem Verfasser einer
Biographie von Ludwig van Beethoven. Die Veranstalterin erläutert mir
ihren Plan für ein Podiumsgespräch draußen, auf der „Bühne am
Schlößchen“ im Französischen Garten vor dem Schloß in Celle. Wenn es
klappt, wäre das meine erste Veranstaltung nach dem Abflauen der
Epidemie.
12.31 Uhr
Seit Beginn der Woche erlaubt es die Stadt wieder, sich in Bonn-Zentrum
ohne Mundnasenschutz zu bewegen. An der Ecke von Münster- und Poststraße
läuft der Blumenverkauf wie früher. Die Blumen stehen in Eimern, in
fertig gebundenen Sträußen, zum Aussuchen: orange und gelb und ein
leuchtendes, sehr körperliches Rot. Vorne an der Verkaufstheke bei der
Crew aus Venlo steht bereits Ruth, um zu bezahlen. Ihr offenes,
rotblondes Haar.
15.07 Uhr
In der E-Mail der Pressestelle der Universität wird der scheidende
Vorsitzende des Unterstützungsfonds zitiert, ein freundlicher Herr Mitte
siebzig: „Der Fonds denkt nicht wie Dagobert Duck. Dagoberts Glück
hängt immer an dem mit Gold-Dollar gefüllten Schwimmbecken.“ Der
Unterstützungsfonds aber lebe davon, seinen akademisch-sozialen Zweck zu
verfolgen. Das sei derzeit nicht so einfach. Sein Nachfolger, der neue
Vorsitzende, gilt als Experte für Fragen des Gemeinnützigkeitsrechts.
Damals, bei unserer Feier, ist er bis zum Schluß bei Mutter geblieben
und hat teilnahmsvoll, sogar tröstlich mit ihr gesprochen. Als er selbst
Student war, hat er im Juridicum Vater noch ins Seminar gehen
sehen.
18.45 Uhr
„Vielen Dank für Ihre Zusendung samt der Tagesordnung“, hatte ich dem
Sekretariat des Unterstützungsfonds geschrieben. „Ich bin doppelt
geimpft und gerne bereit, an der gemeinsamen Sitzung von Vorstand und
Beirat auch in Präsenz teilzunehmen.“ Anwesend sind dann der scheidende
und der neue Vorsitzende, der Rektor und der Präsident der
Alumni-Organisation für mehrere tausend Ehemalige sowie ein neues
Vorstandsmitglied, eine junge und sehr wache Immunforscherin.
Die Doppelvilla, mehr als 130 Jahre alt, mit ihrer großzügigen Ausstrahlung und den überhohen Fenstern steht – von Rosensträuchern umgeben – genau auf der Ecke, an der die nach dem Bonner Astronomen benannte Straße in die Allee mündet. Magnifizenz würdigt den scheidenden Vorsitzenden: „Es ist vor allem sein Verdienst, daß der Weg des Unterstützungsfonds eine solche Erfolgsgeschichte geworden ist.“ Nach den Ansprachen wird Sekt der Hausmarke mit dem weißen Etikett ausgeschenkt, bedruckt mit dem römerzeitlichen Namen der Stadt. Es gibt Obstsaft, Sprudel („Trink Brohler. Fühl Dich wohler“), und wir stehen mit unserem kleinen Antipasto-Teller auf der Terrasse der Rektoratsvilla. Töpfe mit Lorbeergewächsen auf Pfeilern. Ein Pavillondach mit Tischen und Stühlen auf der Wiese und der Blick auf die Backsteinmauern der Königlichen Sternwarte nebenan mit ihrer Teleskopkuppel, ein wenig Steampunk, als hätte Jules Verne von hier aus noch den Mond betrachten können. Tatsächlich war es Friedrich Wilhelm Argelander, der hier hunderttausende von Sternen auf ihre Leuchtkraft hin gemessen und von Hand in einem Katalog zusammengefaßt hat, die letzte Durchmusterung dieser Art vor Beginn der fotografischen Himmelskartografierung.
20.19 Uhr
Es ist taghell über der Allee, die in die Ferne zu führen scheint – ein
Blick, der ein Gefühl nach etwas Unbestimmtem auslöst, nach einer
unerreichbaren Ferne. Dabei ist das Ende der Allee – von den haushohen
Kastanien verborgen und nur zu ahnen – schon bei dem Hauptgebäude
erreicht, das ursprünglich nicht für die Universität errichtet wurde.
Ein Schloß, mehrfach zerstört und wiedererrichtet, das bald wieder ganz
geräumt werden soll, um vollständig kernsaniert zu werden.
Draußen ist es ein diesiger Sommerabend. Die Allee ist hie” etwa 60 Meter breit. Jeweils einspurig fließt der Verkehr an den äußeren Rändern. Die Mitte bildet eine Wiese. Riesig erscheinen die Bäume, dicht und großblättrig belaubt, sommersatt. Sie scheinen die vielgeschossigen alten Stadthäuser noch zu überragen.
Da entdecke ich ihn auf der massiven weißen Parkbank: „Junge, da bist Du ja!“ Ich setze mich zu ihm. Wir sind gleich im Gespräch, als hätten wir heute früh erst telefoniert. „Ein schönes Zusammenspiel verschiedener Bedürfnisse“, sagt er darüber, wie die Allee angelegt ist und richtet dabei den Blick auf die Wiese. „Die Autos können fahren, Fußgänger haben Wege und Bänke, es gibt einen Blick ins Grüne, und wir sind unter den wunderbaren Bäumen!“ Bäume, die die Luft verbessern, Balsam. Er hatte lebenslang Asthma. Sein Altersgesicht erscheint jünger und erinnert neuerdings etwas an Michael Douglas in „The Kominsky Method“. Ich erzähle vom einstweiligen Dekan, jetzt Vorsitzender des Unterstützungsfonds, von dem Rektor mit seinem liebenswürdigen, leicht badischen Tonfall. Baden, sagt er da: „Die zwölf Jahre in Heidelberg waren meine glücklichste Zeit.“ Er kommt mir gelöster vor, als ich ihn das letzte Mal erlebt habe. Tiefbraun die lebhaften Augen, schnell und beweglich. Knupperkirschaugen, wie seine Mutter sie genannt hatte. Seine Mutter Marie Luise, sein Bruder, ich – viele von uns hatten diese Augen aus der Linie Berlin, Potsdam, Plauen im Vogtland. Die „Vogelsche Brut“ hatte die Mutter seines Vaters dazu mit Blick auf Marie Luises besondere Herkunft gesagt. So richtig gut hatte sie das nicht gemeint. „Nun mal ganz was anderes!“ Er trägt seinen Hut, einen seiner sandfarbenen, gürtellosen Trenchcoats von Ermengildo Zegna. Den passenden Schal. Dabei ist es ein Sommerabend. „War der Kanzler auch da?“ Der Verwaltungschef einer Universität wird als Kanzler bezeichnet. Genaugenommen waren beide Kanzler da – der alte und der neue. Er hat sie beide nicht mehr gekannt. „Ich müßte noch was mit dem Kanzler besprechen. Politisch hatte der Herr von Medem ja eine ganz andere Linie. Sekretär von Carl Schmitt“ – er verdreht die Augen –, „aber bei meinen Bleibeverhandlungen haben wir uns fabelhaft verstanden.“ Mit einem Mal steht er auf. Es bleibt offen, ob er im Garten des Rektorats jetzt tatsächlich den Freiherrn von Medem zu treffen erwartet (der vor sechzig Jahren hier Verwaltungschef war).
„So, Junge. Ruth wartet sicher schon. Nun geh mal nach Hause.“ Soll ich Mutter etwas von Dir sagen? Sein Blick geht in die Ferne, wo die Türme der Universität allenfalls zu vermuten sind. Er zögert, nur leicht und sagt dann: „Sie fehlt mir so sehr. Unendlich. Sag ihr das.“
Siehe auch: SEITENWECHSEL aus Riga
David Eisermann – Bonn, Freitag, 25. Juni 2021