SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Johanna Hansen beginnt als erste von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Was ihr zu Denken gibt, ist, was ihr begegnet: die Kunst, die Nonnen des Augustiner-Ordens, der Kirschbaum der Kindheit, die Natur.
8 Uhr
Auf dem Weg zum Bäcker fällt mir ein Plakat für Die GROSSE Kunstausstellung NRW auf: Kunst ist das, was
bleibt
Ich muss lachen. Was für ein Optimismus zu glauben, dass wenigstens die
Kunst uns erhalten und erhaben bleibt als Richtschnur in der der sich
immer weiter krisenhaft zuspitzenden Situation unseres Planeten. Und was
für ein Gegensatz zu der Bemerkung einer Künstlerin in der von mir
abonnierten Fachzeitschrift. Sie möchte am Ende ihres Lebens zusammen
mit ihren Bildern eingeäschert und begraben werden. Künstlerisches
Schaffen und Scheitern im Zeitalter der Pandemie: eine vertraute
Erfahrung in einem hierarchisch strukturierten Kulturbetrieb. Der
Kollegin war von einer Jury mangelnde Museumsreife bescheinigt worden
und jetzt möchte sie verhindern, dass ihre Bilder nach ihrem Tod auf dem
Sperrmüll landen. Mangelnde Museumsreife. Es zu denken, ist das eine.
Es auszusprechen: eine Arroganz. Wie schutzlos Kunst – und nicht nur sie
– geworden ist. Kunst hat den sakralen Raum verlassen, in dem sie
entstand. Musste ihn verlassen. Und nun erschöpfen wir uns mit befreiten
Händen.
12 Uhr
Zurück von einer Besprechung in einem ehemaligen Kloster, das nun
kernsaniert und zu einem Ärztezentrum umgebaut wird. Es geht um Bilder
und Ideen zur künstlerischen Gestaltung der im zweiten Stock liegenden
Räume, vor allem des Kinderbereichs der Zahnarztpraxis, die dort
eröffnet wird. Als ich dort eintreffe, spaziert gerade eine Ordensfrau
im schwarzen Habit am Haus vorbei. 120 Jahre lang gehörte es der
Ordensgemeinschaft der Augustinerinnen. Jetzt sind nur noch vier
Schwestern übrig. Sie leben im Altersheim, erfahre ich später. Die Welt
der Augustinerin ist mittlerweile völlig aus den Fugen geraten. Weshalb
kann sich heute niemand mehr an Gott anlehnen, fragt die Ordensfrau
Fiete, der mich hierhin begleitet hat. Vielleicht, weil die Menschen
selbst Gott geworden sind, um die Erde nach Belieben zu plündern.
Vielleicht, weil sie sich ihre eigenen Paradiese schaffen und wieder
zerstören wollen, überlegen Fiete und ich auf der Rückfahrt.
Während der Besprechung des Farb- und Raumkonzeptes habe ich den Eindruck, dass vor dem Hintergrund der Hausgeschichte unausgesprochen die Vorstellung im Raum steht, Kunst möge sowohl dazu beitragen, die verloren gegangene Spiritualität zu ersetzen, als auch den um sich greifenden vielfältigen Ängsten entgegenzuwirken. Sei es auch nur der Angst vor dem Zahnarztbesuch. Angesichts der vielfältigen, immer wieder an die Kunst gestellten Ansprüche, tauchen – wie so oft – starke Selbstzweifel in mir auf. Die mit Sinnstiftung überstrapazierte Kunst kann nicht sämtliche Löcher stopfen, die wir in so vielen Bereichen des Lebens selbst verursacht haben. Dazu kommt die katastrophale finanzielle Lage, in der die meisten Künstler sich befinden. Gegen das, was fehlt, komme ich mit Farben, Papier und Worten nicht an. Meine Arbeit sieht völlig anders aus, als viele glauben, die in der Kunst Rettung suchen. Und sie ist einfach: Konzentration auf Stille. Konzentration auf Schönheit. Zuhören. Fragen.
16 Uhr
Meine ambivalenten Gefühle der Ordensfrau gegenüber nehmen zu. Sie hat
Haus und Heimat verloren. Das ist schmerzhaft. Wie jede Form von
Obdachlosigkeit.
Die katholische Religion war die alles kontrollierende moralische
Instanz in meiner Kindheit und unantastbar. Im katholischen
Kindergarten, den Augustinerinnen leiteten, wurden mir gelegentlich
Pflaster auf den Mund geklebt, weil ich als „frech und vorlaut“ galt.
Ihre erzieherischen Methoden waren rigide und schränkten jeden
Bewegungsdrang ein. Das A bis Z meiner Kindheit waren Gehorsam gegenüber
der Kirche und das Gefühl, darin eingeschlossen zu sein wie eine Fliege
in Bernstein.
Ein paar Jahre später flüchtete ich häufig vor den Zumutungen des Lebens in mein Lieblingsversteck. Einen Kirschbaum. Er stand auf einem verwilderten Gartengrundstück, das ein paar hundert Meter hinter meinem Elternhaus lag. Gegenüber war der Bahnhof. Vom obersten Ast des Kirschbaums bis zu den Wurzeln, die in einer Obstwiese steckten, kannte ich jeden Zweig. Rauf- und Runterklettern war ein abenteuerlicher, aber überschaubarer Weg. Auf dem Bahngleis gegenüber fuhr der rote Schienenbus von Kleve nach Duisburg.
Ich kenne den Fahrplan. Stündlich halten zwei Züge. Im Sommer fährt der Schienenbus mit geöffneten Türen: zum Blumenpflücken, sagen scherzhaft die Fahrgäste. Der helle, blank gewischte Himmel beugt sich zu mir herunter, je höher ich mich in die Baumkrone vorwage. Das Ausharren in der Baumkrone steigert sich zu Sehnsucht, weil alle Züge ohne mich davonfahren, sich in der staubigen Hitze, die über den Schienen flimmert, verlieren, während die Felder hinter ihnen zusammenschlagen. Kirschsaft färbt Hände und Mundwinkel rot. Ich warte immer auf den nächsten Zug, alles in mir fordernde Ungeduld. Male mir aus, dass ich aufbrechen werde von hier, irgendwann. Hänge mir Früchte ans Ohr, vorerst noch auf der Durchreise vom Boden in einen Himmel, den ein strafender Gott samt Erzengeln und Märtyrern beherrscht. Genau an der Stelle, wo die Trillerpfeife des Schaffners beim Türenschlagen das Summen der Bienen im Kirschbaum unterbricht, nimmt meine Sehnsucht schon mal Maß für ein Leben jenseits eines verordneten göttlichen Plans. Aber darüber darf ich nicht sprechen. Wie über so vieles nicht. Wenn Vater mich abends fragt: Kannst du schon Köln sehen, und seine Hände auf meine Ohren presst, um mich am Kopf hoch zu heben, rufe ich: Ja, ich sehe den Dom, dabei erkenne ich bloß den Schuppen jenseits des Gartenzauns, wo die frisch geschnittenen Baumstämme trocknen.
In der frühen Dunkelheit des Winters wartete ich hinterm sicheren Badezimmerfenster darauf, auf dem meinem Elternhaus gegenüberliegenden Friedhof Gespenster zu sehen. Meistens lief aber bloß der Küster im schwarzen Ornat mit langen Schritten über die Kieswege zur Kirche, um die Abendglocken zu läuten. Das Flackern der Kerzen auf den Gräbern hielt ich für den Atem der Engel. Sie nahmen mir nachts die Luft zum Atmen.
20 Uhr
Ich habe für zwei Wochen eine Ferienwohnung gebucht. Sie liegt an einem
See in Ostfriesland, umgeben von Wald. Ich weiß kaum mehr, wie es ist,
durch einen Wald zu laufen, der größer ist als ein städtischer Park,
umschlossen von Krach und angelegt als grüner Vielzweckraum.
Fernweh nach Wald. Holz und Harz. Es fühlt sich in diesem Jahr an wie
Auftauen aus Schockstarre. Ein Kribbeln, vor allem in den Füßen. Fernweh
nach unkomplizierten Dingen. Beeren pflücken. Den Wind in den Bäumen
hören. Vögel.
Fernweh fühlt sich auch immer noch ähnlich an wie Freiheit. Ich muss
nicht unbedingt verreisen, um diesen Zustand zu erleben. Er entsteht von
einem zum nächsten Bild, von Gedicht zu Gedicht. Sie gehen miteinander
um wie Nachbarn, die sich lange kennen. Mal als Wörter, mal in Form z.
B. von Tusche. Der Umgang damit ermöglicht mir Perspektivwechsel.
Ob das Kunst ist, was dabei herauskommt, Transzendenz ermöglicht und vor
allem, ob „das“ bleibt, ist mir völlig unwichtig. Wichtig ist der
Resonanzraum, der dadurch entsteht.
Johanna Hansen – Düsseldorf, 25. Juni 2021