SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Gundega Repše ist eine von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Sie ist Lettin, und sie schreibt aus Riga. Dort kämpfen die Künstler und Intellektuellen gegen die Ignoranz der Staatsmacht. Zugleich leben sie ihre Kultur mit dem nicht zu bewältigenden Problem der Abgrenzung. Diese sinnenfreudigen Aufzeichnungen sind auch Selbstvergewisserungen.
5.00
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Nach der tropischen Nacht reiße ich alle Fenster auf und wische den
Fußboden. Das soll helfen, das Haus kühl zu halten. Hund und Katze
wälzen sich wie Robben auf den feuchten Dielen.
Ich werfe die Johanniskräuter weg. Dieses Jahr war die Stimmung zu
Mittsommer ganz anders als sonst. So lange hatten mich die Coronagebote
eingezwängt, dass ich jetzt plötzlich auch in den erlaubten Grenzen
nicht unter Menschen sein wollte. Ist das so etwas wie das Syndrom eines
Gefängnisinsassen, der sich bei der Rückkehr ins normale Leben nicht
mehr anpassen kann? Hoffentlich nicht. Mittsommer war immer mein
Lieblingsfest. Nur zwei Mal war ich am Līgoabend nicht in Lettland. Das
erste Mal 1992, als ich zu einer Feminismuskonferenz nach Amsterdam
fliegen musste, das andere Mal war 2012 auf meiner Sibirienreise, wo ich
den Spuren meiner Mutter in der Verbannung folgte. In Amsterdam
feierten wir im Rotlichtviertel, ganz einfach deshalb, weil sich dort
das Hotel befand, in das man die aus der ehemaligen Sowjetunion
angereisten Schriftstellerinnen einquartiert hatte. In Sibirien feierten
wir Līgo an einer Tankstelle, wo die Kühe des Dorfes aus den Mülleimern
fraßen.
9.00
Morgenkaffee unterm Jasmin. Frösche quaken. Vögel zwitschern, pfeifen,
flöten und trällern. Das Gras wächst mit erhöhter Geschwindigkeit,
ungeachtet der Trockenheit und Hitze. Die Natur behauptet sich und weist
den Menschen auf seinen unerheblichen Platz im weiten Raum. Aus
Bequemlichkeit romantisieren wir das und nennen es Verschmelzen mit der
Natur. Nach dem ermüdenden Winter an der Kandare der Pandemie schnappt
der wundgescheuerte Mund nach Luft, bis man in Ohnmacht fällt. Dort bist
du in Sicherheit, aber das kann nicht der Weg sein.
11.00
Ich schreibe Briefe an Freunde. Erzähle, wie ungewohnt ich Mittsommer
verbracht habe, und dass ich nicht weiß, ob ich jemals wieder reisen
will. Auf jeden Fall nicht so bald. Denn ich glaube noch immer nicht
daran, dass zur Zeit irgendwo das Leben pulsiert. Tempelruinen ohne
Gegenwart interessieren mich nicht.
13.00
Ich koche Mittagessen. Neue Kartoffeln mit Dill und frischen Salzgurken
und Hühnchen. Während ich an den Zutaten der Materie herumfingere,
kriechen wieder die Schlangen des Tagesgeschehens in meinen Geist. Der
Finanzminister reagiert auf die heftige Kritik von Intellektuellen und
Unternehmern an der Einführung neuer Steuern, während das Land sich im
schwarzen Pandemienebel befindet, mit einer zynischen Aufforderung zur
Umschulung. Dieser ehemalige Komsomolze hat jeglichen Respekt vor der
Regierung verspielt. Im Frühling haben wir auf dem Domplatz gestanden,
jeder mit einem Ziegelstein in der Hand. Den haben wir symbolisch in die
Mauer eingesetzt, die in Lettland die Staatsmacht von der Kultur
trennt. Heutzutage verschleudern sie Millionen wie die Angler
Fischeingeweide, doch Kultur war für die Staatsmacht noch nie eine Ware
des täglichen Bedarfs. Im besten Fall brauchen sie sie als Dekoelement,
wenn sie sich als verantwortungsvoll positionieren. Die Intelligenz ist
es leid, sich ständig beweisen zu müssen, daran zu erinnern, dass Kultur
die Grundlage eines Nationalstaats ist. Die ehemaligen Aktiven der
Nomenklatur der zusammengebrochenen Sowjetunion träumen immer noch in
den Konturen eines globalen Gouvernements. Sie haben einfach kein
anderes Material für Träume. Nein, beim Kochen muss der Mensch
wohlwollend, milde und voller Liebe sein. Sonst kannst du das Ergebnis
deinen Feinden servieren. Und die lasse ich nicht in mein Haus. Aha,
meldet sich der innere Teufel zu Wort, der sich mit seinem klebrigen
Schwanz bis in die Gedankengärten hochgeschaukelt hat, das Thema der
Abgrenzung ist für dich also äußerst aktuell. Aber unser Haus hatte noch
nie einen Zaun. In Semgallen haben die Menschen seit je in Baumgruppen
gelebt. Die großen alten Bäume zeigten schon von Ferne freundlich an:
hier wohnt jemand. Zwischen den Baumgruppen liegen die Felder. Ich habe
Glück, Weizen bis zum Horizont für Sonnenaufgangsbilder, und auf der
anderen Seite des Wegs wogt der Raps, der Bienen Lust und Verdammnis.
20.00
Die Hitze treibt literweise Wasser aus dem Körper. Wo hat das alles
vorher gesteckt? Wieviel Wasser ist im Gehirn?
21.00
Ich muss aufhören, mir vorzumachen, dass ich noch motiviert zum
Schreiben bin. Es fällt mir schwer, nach den Sitten eines kleinen Staats
zu leben, in dem fast jeder jedem schon mal Ehemann, Ehefrau, Geliebter
oder Geliebte gewesen ist. Es ist eine Sackgasse, denn ich werde
Lettland nicht verlassen. Ich werde in der lettischen Sprache versinken,
und die Brüder und Schwestern können ruhig weiter im väterlichen Hof
ihre Kriegsspielchen spielen, sich über Dinge und Erscheinungen
streiten, denen Transzendenz nie zur Seite gestanden hat.
Die Nachtigallen setzen ein.
Ich gehe schlafen. Schlaf ist die Illusion von der Rückkehr der
Unschuld, und ich wiege mich gerne darin. Bevor die Lampe des
Bewusstseins erlischt, bin ich selbst der ganze Globus. Und der hat
keinerlei Illusionen mehr.
Aus dem Lettischen von Nicole Nau
Gundega Repše – Riga, 25. Juni