SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. Johanna Hansen beginnt als erste von sechs Autorinnen und Autoren des zweiten SEITENWECHSELS, der von Faust-Kultur aufgenommen wird. Was ihr zu Denken gibt, ist, was ihr begegnet: die Gespenster der Kindheit, das Entsorgen des Entbehrlichen, die Erinnerung und der Schnee.
9 Uhr
Das alte Jahr hab ich abgestreift im Schlaf. Bin um Mitternacht kurz aufgewacht, weil vereinzelt Feuerwerk zu hören war. Aber keine lauten Partys in der Nachbarschaft. Keine abgebrannten Raketen im Hof. Keine aufgeschreckten Vögel. Silvester verlief fast so unspektakulär wie in den 60er Jahren auf dem Land. Als wir zum Himmel hinaufsahen, wenn die Kirchenglocken das neue Jahr einläuteten und in den Rauhnächten die Grenze zwischen der Realität und der Welt der Toten durchlässig war. Als ich mich noch vor solchen Erfahrungen fürchtete. An Sonn- und Feiertagen wurde keine weiße Wäsche gewaschen. Erst recht nicht an Weihnachten und Neujahr. Laken auf der Leine bedeuteten ihre Rückkehr ins Haus als Leichentücher im folgenden Jahr. Wir lachten darüber, verhielten uns trotzdem lieber vorsichtig. Es war die Zeit des Aufräumens und der Spukgeschichten. In der tiefsten Nacht glaubte ich oft, einen dunklen Schatten am Fußende meines Bettes zu sehen, der nach mir griff.
11 Uhr
Immer noch liegt der Brief aus der Schweiz auf dem Schreibtisch. Ein dicker Umschlag mit der gesamten Korrespondenz über meine Ausstellung in Davos vor mehr als zwanzig Jahren. Wenige Tage zuvor erreichte mich eine Mail, in der die Postsendung angekündigt wurde. Die Ausstellung war ein Fiasko. Gründlicher als damals wurden meine Bilder und ich nie missverstanden. Der Brief kommt mir vor wie eine Nachricht aus dem Jenseits. Der Brief kommt viel zu spät, um als Entschuldigung verstanden werden zu können. Seine indiskrete Verspätung macht ihn lächerlich. Fällt unter die Rubrik Abschied, entscheide ich und zerreiße ihn ungeöffnet. Es gibt lange Abschiede und kurze.
In den Tagen vor Silvester habe ich eine kleine Kommode geleert. Ich zog eine Schublade nach der anderen auf und legte zur Entsorgung beiseite, was ich nicht mehr brauche.
Elektrokabel, Kopfhörer und Ladegeräte, zwei veraltete
Handys.
Die Einäscherungsurkunde unseres letzten Mopses und den Stammbaum des
vorletzten.
Ausländische Münzen aus der Zeit vor dem Euro, Garantieerklärungen,
Filme für eine analoge Kamera, die ich nicht mehr besitze.
Tinte, den Füller, ein Geschenk zum Schulanfang.
Einen Stadtplan von Davos.
15 Uhr
Den Füller werde ich doch behalten. Mit diesem abgewetzten Pelikano, den ich zur Einschulung bekam, schreibt es sich am besten. Er hat mich zwar nicht zur Schönschrift befähigt, aber jederzeit mit Sprache gefüttert. Schnee wurde mein Lieblingswort, denn es gab schneefrei, sobald genug Flocken vom Himmel fielen, um den Schlitten herauszuholen. Eine willkommene Unterbrechung vom (Schul-)Alltag im Winter. Die ungewohnte Helligkeit, Weite und Stille beschneiter Landschaft gaben mir das Gefühl, leichter über den Rand des Abgrunds zu balancieren, der mich so oft vom Leben trennte. Schnee war dasselbe wie Hoffnung.
Anders als beim Brief, bin ich unentschlossen, was den Stadtplan von Davos betrifft.
Fiete und ich verbrachten drei Tiefschneewinter und drei kurze Hochgebirgssommer in Davos. Dann zogen wir nach Düsseldorf und fuhren jedes Jahr für zwei bis drei Wochen wieder dorthin, um die Lunge mit Bergluft und trockener Kälte aufzufrischen. Schnee fiel damals noch reichlich auf den Gipfeln. Und wenn er ausblieb, wurden Schneekanonen eingesetzt. Schnee wurde mein Dauerthema, denn ich liebe die Nicht-Farbe Weiß. Auf Weiß kann ich (mich) vergessen und erinnern. Weiß ist meine Löschtaste und jeder Neuanfang. Als 2020 meine Schneeminiaturen als Buch veröffentlicht wurden, war das die eigentliche Trennung von Davos. Ich schloss das Manuskript und wusste: das ist der Abschied. Nicht, wie ich lange glaubte, der Aufenthalt dort zur Jahrtausendwende. Wir verbrachten sie in dem Berghotel, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bekanntes Sanatorium war. Standen vor der Jugendstilfassade und schauten ins lichtgeflutete Tal. Feuerwerk auf den Höhenzügen verwandelte die Landschaft in einen sprühenden Kristall. Es spielte kaum eine Rolle, dass die Tiere immer weiter in die hochgelegenen Täler gejagt wurden, damit Pisten und Loipen auch nachts für den Sport präpariert waren. Gegen den Zauber des Schnees war ich machtlos. Gegen den Skizirkus nicht. Ich entsorgte meine Ausrüstung und ging fortan zu Fuß durch den Wald.
… das hier ist kein ort für
kompromisse.
wo wolken in teetassenhöhe segeln. der page an der rezeption
auf
dem handrücken ein walfischtattoo trägt. wo auf der veranda
die nacht
schneekissen in korbstühle häkelt und in der bar eiswürfel aus
dem
sektkühler in exotische drinks klirren. entsteht eine
topografie aus winterlandschafts-
prospekten mit einschüben abgründiger stimmungen.
aufgehellt durch ein muster aus eisblumen auf den
fensterscheiben.
verworren dagegen die ausgestöpselten schnüre der
ehemaligen
telefonanlage in der halle. das ende der geschichten aus der
zeit.
als das hotel ein sanatorium war. reicht nahtlos bis in die
gegenwart.
der vergitterte fahrstuhl bewegt sich langsamer zwischen den
etagen als
ein fußgänger auf den marmortreppen
…
vor dem haus gräbt ein mann mit einem spaten reihe
für reihe den schnee
um. als wäre es frühjahr und zeit. die erde in den beeten
aufzulockern.
lautsprecher sagen die nächste skiabfahrt an. jede
begrüßungsszene ist wiederer-
kennbar. flügeltüren beugen sich durchs schlüsselloch.
die
silhouetten. das gepäck der reisenden wechseln wie die von
bergdohlen
umlagerten futterplätze. kinder versammeln sich vor der
eingangstür zur schneeball-
schlacht.
wer fürchtet sich vorm schwarzen mann. riefen wir früher.
steckten ihm schwanenfe-
dern an den hut und glaubten. jedes eis mit
siebenmeilenstiefeln
brechen zu können … das hotel führt die solitäre
existenz einer überschminkten al-
ternden diva. die den garderobenausgang nicht mehr
findet.
ich kam wegen einer luftkrankheit viele jahre lang immer
wieder nach davos …
dachte. in dieser frostklaren luft werden die taue
gekappt.
(aus: Zugluft der Stille, edition offenes feld 2020)
18 Uhr
Beim Spaziergang durch unser Stadtviertel geraten wir in eine
Demonstration von Gegnern der Coronamaßnahmen. Es sind sehr viele. Auch
Eltern mit Kleinkindern. Sie haben Lichterketten umgehängt, schwenken
Taschenlampen, blasen Trillerpfeifen, schlagen Trommeln. „Wir sind hier,
wir sind laut, weil man unsere Freiheit klaut.“ Als eine, die zur
„Hochrisikogruppe“ gehört und froh ist, mehrfach geimpft zu sein, stehe
ich fassungslos am Straßenrand. Niemand ist maskiert. Die Stimmung
latent aggressiv. Auf den Transparenten obskure Parolen eines
Endzeitszenarios. Wir haben das Gefühl, uns durch Minenfelder und
Klagegesänge zu bewegen, die denen unserer Kindheit gleichen. Wie oft
endeten Diskussionen in irrationalen Schuldzuweisungen über die
Kriegsursachen. Verschwörungstheorien schürten Ängste. Sie krochen –
damals wie heute – an den Seiten abgrundtiefen Misstrauens
heraus.
20 Uhr
Der Versuch, Gedichtentwürfe zu überarbeiten, scheitert. Jede
Formulierung schmilzt mir unter den Fingern weg.
23 Uhr
Sich im Bett austrecken und durch die geöffnete Tür zum Hof das leise
Zirpen des Rotkehlchens hören. Ich entspanne mich. Die Gespenster der
Vergangenheit und die der Gegenwart ziehen sich zurück, sobald ich mich
auf die ruhigen Atemzüge Fietes neben mir konzentriere. Ich passe eine
Weile auf seinen Schlaf auf, bevor ich selbst einschlafe. Jeder Traum
ist eine Reise an Weiß gelehnt.
Johanna Hansen – Düsseldorf, 1. Januar 2022