Ob man ihre Bedeutung erfassen kann oder nicht, manche Gesangsfragmente, manche Liedpassagen und Songtexte lassen sich dauerhaft auf einem Gedächtnisplatz nieder, den wir offenbar für solche singseligen Gäste reserviert haben. Die Reihe LyrikLINES gibt AutorInnen Gelegenheit, solchen Ohrwürmern nachzugehen und damit ihren eigenen Assoziationen zu folgen. Wir beginnen mit Ruth Fühners Gedanken über Shel Silversteins „The Ballad of Lucy Jordan”.
At the age of thirty-seven
she realised she’d never
ride through Paris in a sportscar
with the warm wind in her hair
(Shel Silverstein, „The Ballad of Lucy Jordan”)
Vier Zeilen, in denen ein Lebenstraum
zerbricht. Ein unreiner Reim – „seven“/“never“ –, der
Reibung erzeugt. Ein scheinbar sinnfreier Zeilenbruch, der aber
funktioniert wie ein Cliffhanger: Wer will nach „never“ nicht wissen,
wie es weitergeht? Eine winzige gedankliche Pause, die einen paradoxen
Un-/Möglichkeitsraum eröffnet: die imaginierte Fahrt durch Paris als
pars pro toto, als Metapher der Freiheit – nie zu erreichen,
never.
Wer ist diese „Sie“, deren Traum da zerbricht? Warum muss es
ausgerechnet Paris sein, warum ein Sportwagen? Was sagt dieser Traum
über die, die ihn träumt? Und: warum muss er zerbrechen?
*
Der Name ist Lucy Jordan. In ihrem weißen Schlafzimmer in einer weißen
Vorstadt irgendwo in den USA (der
Mann ist im Büro, die Kinder in der Schule) verliert sich eine Hausfrau
mittleren Alters in einem morgendlichen Wachtraum – von tausend
Liebhabern, von einer Spritztour durch Paris… Die tausend Möglichkeiten,
die vor ihr liegen an diesem Morgen, sind ganz andere: Zum Beispiel
Putzen oder Blumen arrangieren. Oder: nackt und schreiend durch die
Straßen rennen. Das Gelächter, von dem sie sich verfolgt fühlt, die
Menge, die sich versammelt, als sie – doch wohl in Suizidabsicht – auf
dem Hausdach steht, der Mann, der sie mit einem langen weißen Auto
abholt – all das lässt sich lesen als Folgen einer gefährlichen
Verwechslung von Phantasie und Wirklichkeit. Deutbar als psychische
Erkrankung – oder als gesellschaftlich induzierte, potenziell tödliche
Verzweiflung.
*
Zum ersten Mal eingespielt wird die Ballade von Lucy Jordan 1974 von Dr.
Hook and the Medicine Show – A Tonic for the Soul. Im konkreten
Zusammenhang wirkt der Bandname wie ein ironischer Kommentar. Ärztlich
verordnete Stimmungsaufheller gehören seit den Sechziger Jahren (von
Vietnam über Woodstock bis Watergate) zum Klischee der frustrierten
amerikanischen Vorstadthausfrau. Geschlagen mit zwanghaftem
Perfektionismus und Putzwahn, gilt sie der rebellischen jüngeren
Generation als Verkörperung des Spießertums. Im Kino, in der Literatur,
in der Musik: Das suburbane Amerika ist eine einzige Brutstätte von
Midlife-Trostlosigkeit, kaputten Träumen, von Haltlosigkeit und
Einsamkeit.
Die Rolling Stones bringen es 1966 in „Mother’s Little Helper“ auf den Punkt. Die Mutter kommt mit den aufsässigen Kindern nicht zurecht, das Schnitzel ist angebrannt, vom Ehemann kommt kein Dank – was hilft, ist der Griff zu einer kleinen gelben Pille, die der Arzt verschreibt. Tatsächlich ist in den 60er Jahren die Valium-Abhängigkeit in den USA zu einer regelrechten Vorstadt-Epidemie geworden. Eine Drogenkultur, die so nicht genannt werden darf.
Die Stones erzählen das Drama der älter werdenden Frau aus der
Sicht der rebellischen Kinder, die Träume hinter der hysterischen
Oberfläche bleiben unsichtbar.
*
In „Ballad of Lucy Jordan“ hingegen bekommen wir Einblick in ein
weibliches Innenleben. Es ist kein Zufall (und auch nicht nur dem Reim
geschuldet), dass der Text ein konkretes Alter angibt. Es ist das Alter
einer Frau in der Midlife-Crisis, zwischen den Generationen. Sie hat
Kinder, ist aber nicht zu alt, um ihren eigenen Jugend-Träumen
nachzuhängen. Irgendwie scheinen die denen der aufsässigen Jungen gar
nicht so unähnlich: Freie Liebe, langes Haar (statt Betonfrisur),
Ungebundenheit, Selbstfindung…
Offenbar hat Lucy Jordan keine Stimmungsaufheller in der
Schublade, um den Untergang ihrer Träume aushalten zu können. Aber egal,
ob Valium oder Psychiatrie – beide individualisieren das seelische
Elend einer ganzen Generation von Frauen wie sie. Dabei ist es doch
Ausdruck einer umfassenden gesellschaftlichen Krise (noch einmal:
Vietnam. Woodstock. Watergate), in der überkommene Werte und Normen
rasant zerfallen. Für Lucy Jordan bleibt immerhin der Trost der
Phantasie: dass der Rettungswagen, der sie abholt, eben jener Sportwagen
sei, in dem sie durch Paris fahren wird.
*
Woher hat Lucy Jordan ihre Träume? 1956, da dürfte sie noch gerade ein
Teenager sein, feiert der Film „Et dieu crèa la femme“ mit Brigitte
Bardot in den USA einen
Riesenerfolg. Keine Geringere als Simone de Beauvoir entdeckt darin
einen neuen, authentischen und befreiten Frauentypus: die Verkörperung
sexueller Selbstbestimmung – weder Madonna noch Hure, aber auch weit
entfernt von jenen „stählernen Magnolien“, die als Schreckensphantasie
amerikanischer (Vorstadt-)Ehemänner kursieren.
Vielleicht hat Lucy Jordan auch Nouvelle Vague-Filme gesehen.
In „Pierrot le Fou“ von 1965 z.B. kommt eine Szene vor, die für ihre
Phantasie direkt Pate gestanden haben könnte: Anna Karina an der Seite
von Jean Paul Belmondo – mit offenem Haar auf der Fahrt im Kabrio durch
den Sommer.
Auch die unzähligen Fotos, auf denen Brigitte Bardot mit ihren erotisch
inszenierten Sportwagen posiert, könnten Lucy Jordan inspiriert haben.
Der Rausch der Geschwindigkeit, die Beherrschung der Maschine – die Frau
ist nicht nur Beifahrerin, sondern Lenkerin ihres Geschicks.
*
So stellen sich das auch Thelma und Louise vor im gleichnamigen
Roadmovie von Ridley Scott: Zwei Frauen im Kabrio unterwegs im Süden
der USA, das offene Haar flatternd
im Wind. Dazu läuft die Ballade über Lucy Jordan – und schon damit ist
klar: die Umstände, sie sind nicht so.
Thelma und Louise fahren durch ein Land, das geprägt ist von
toxischer Männlichkeit und struktureller sexistischer Gewalt. Und sie
reagieren mit Gegengewalt. Der Film bleibt in den Grenzen des Genres:
dass zwei Frauen mit der Tötung eines Mannes ungestraft davonkommen, ist
undenkbar. Das Ende kann also auch hier kein glückliches sein – der
Schein von Freiheit und Selbstbestimmung trügt, wenn Louise den
Thunderbird in den Grand Canyon steuert, statt sich der Polizei
auszuliefern.
*
Marianne Faithfull, die Sängerin, mit deren Stimme Lucy Jordans
Geschichte für immer verknüpft bleiben wird, ist fünf Jahre jünger als
diese, als sie den Song 1979 für ihr Album „Broken English“ aufnimmt.
Auf den ersten Blick verbindet sie nichts mit den desillusionierten
Hausfrauen aus der Vorstadt. Offizierskind mit adligen Wurzeln, liiert
mit Mick Jagger, ist Faithfull in den 60ern glamouröses It-Girl der
Londoner Szene. Wild und gefährlich soll das Leben sein und ist es auch.
In Swinging London wird Heroin konsumiert anstelle der spießigen rosa
Valium-Brille: High sein – frei sein! Allerdings erfüllt sich das
Versprechen, mittels drogeninduziertem Hochgefühl Konformität und
Langeweile hinter sich zu lassen, auf verquere Weise. Frei-Sein bedeutet
wie für so viele andere Junkies auch für Faithfull eine Zeitlang
lediglich die Freiheit, auf der Straße zu schlafen und sich nicht um ihr
Kind kümmern zu müssen. Das hat man ihr vorsorglich weggenommen. Und
wie bei Lucy Jordan scheitert auch Faithfulls Suizidversuch. Allerdings
schafft sie nach langem Kampf auch einen Neuanfang – mit ihrer
charakteristischen brüchigen Stimme, broken English.
*
Elf Jahre zuvor veröffentlichen die Beatles in London ihr Weißes Album.
Eines der Stücke darauf firmiert für viele ganz oben auf der Liste der
schrecklichsten Songs ever – der Titel klingt auch tatsächlich
albern: „Ob-la-di ob-la-da“. Doch die karibisch inspirierte
Wohlfühl-Mitklatsch-Nummer birgt eine hübsche Pointe. In der letzten
Strophe tauschen Ehemann und Ehefrau, Eltern einer nicht mehr ganz
jungen Kinderschar, die Rollen: Molly betreibt das Geschäft, Desmond
bleibt zuhause und macht sich schön, und Molly singt abends (weiterhin)
mit ihrer Band. Es heißt, dass sich diese gendertrubelige Arbeitsteilung
lediglich einem Versehen des Sängers und Texters Paul McCartney
verdankt. Immerhin entschieden sich die Beatles dafür, es nicht zu
korrigieren.
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