Die Entwicklung der musikalischen Komposition hat sich entlang der instrumentaltechnischen Innovationen und den daraus folgenden Regelbrüchen vollzogen. Nun, da vor einiger Zeit die letzten Reste eines kompositorischen Regelwerks aufgegeben wurden und also keine Regelbrecherei mehr stattfinden kann, stellt sich die Frage, wie die zeitgenössische Musik sich selbst begreift. Der Schweizer Musikologe Christoph Haffter hat mit seinem „Musikalischem Materialismus“ eine Erklärung geschrieben, die Ernst August Klötzke gelesen hat.
In
Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der Komposition und
Kunsttheorie erarbeitet der Schweizer Philosoph und Musikwissenschaftler
Christoph Haffter eine Konzeption des musikalischen Werks, die es an
das ästhetische Urteil und die historischen Tendenzen des Materials
bindet. Für diese Verbindung von Musikästhetik und kritischer Reflexion
der Gegenwart steht der Begriff eines Musikalischen
Materialismus.
Haffter wagt ein großes Unterfangen, nämlich eine Philosophie der
zeitgenössischen Musik aus den Perspektiven der materiellen Bedingtheit
und des ästhetischen Urteils.
Wie denn Musik heute als Kunst möglich sei, lautet dabei die Frage als
Ausgangspunkt seiner Befassung. Mit dem Untertitel „eine Philosophie der
zeitgenössischen Musik“ verweist Haffter auf die 1949 erschienene
„Philosophie der neuen Musik“ von Adorno, in der ein zwar anders
gelagertes, aber ähnlich sich ausprägendes Moment der Krise damals wie
heute „gegenwärtigen“ Komponierens thematisiert wird. Dies mag
unausgesprochen beide Bücher miteinander zu verbinden.
Der philosophische Diskurs zeigte sich in den vergangenen
Jahren und Jahrzehnten immer wieder in manch mehr oder weniger gefärbten
ideologischen Perspektiven aus den Reihen der Musikwissenschaft und
besonders auch von Komponist*innen, deren Anliegen war und ist, die
Pluralität zeitgenössischer Musik greifbar zu machen und sich
gleichzeitig in darin, über eigene Partituren hinausgehend, zu
positionieren.
Haffters Buch erscheint nun wie eine erweiterte und um die eigene Sicht
angereicherte Gegenüberstellung dessen, was unter ästhetischen,
ökonomischen, gesellschaftlichen und „das Große und Ganze“ betrachtenden
Bedingungen möglich und nötig ist.
Die Kunstmusik, so Haffter, sei „in einer Krise, weil sie selbst an
ihren eigenen Möglichkeiten zweifelt“ und er führt dies unter anderem
darauf zurück, dass „in ihr die Kategorien, in denen Musik und Kunst für
gewöhnlich gedacht wurden, ihre Gewissheit verloren haben“.
Der Aufbau der Einleitung erinnert an die Ausgestaltung eines ersten Aktes im klassischen Drama (ich scheue mich, den vielleicht näher liegenden Begriff einer klassischen „Sonatenexposition“ zu verwenden, da die Vorstellung, eine solche Menge von Themen in einem Sonatensatz durchdringen zu müssen, meine Vorstellungskraft überschreitet), nach einer Klärung und Kontextualisierung unterschiedlicher und für die weitere Auseinandersetzung notwendiger Begriffe unterbricht Haffter seine Begriffsklärung, um sich einer Komposition zuzuwenden, anhand derer er exemplarisch „einer Reihe von Problemen Ausdruck verleiht, die für die zeitgenössische Kunstmusik im Allgemeinen von Bedeutung sind“.
Es handelt sich dabei um das Piano Concerto (2014) des 1976
geborenen dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen, dessen materieller
Ausgangspunkt die verlangsamte audiovisuelle Darstellung eines
zerberstenden Flügels ist. Man mag an diverse Fluxus-Performances der
1960er Jahre erinnert sein, in denen solche Ereignisse als künstlerische
„Ersatzhandlung“ für die Dekonstruktion spätbürgerlich/kapitalistischer
Gesellschaftsformen initiiert wurden: Das Moment der Zerstörung eines
Instruments war das Kunstwerk. Und die Frage, ob denn dieses Kunstwerk
aus ästhetischer Sicht als gelungen oder gescheitert gewertet werden
sollte, war nicht gewollt und nicht erlaubt. Anders, so Haffter, verhält
es sich bei Steen-Andersen, da „die Zerstörung bürgerlicher Instrumente
ihre ästhetische Dringlichkeit verloren“ hat und als „verbrauchtes
künstlerisches Verfahren (…) nun aber zum Material eines Werkes“ wird,
da es das „audiovisuelle Material“ liefert, „aus dem ein Werk gemacht
wird“. Haffter beschreibt, wie nach der (vielleicht aus heutiger Sicht
obszönen) Eröffnungssequenz des Konzertes eine Art Nachklang die
akustische Übergabe an das Orchester formt. Es geht also um den nicht
steuerbaren Moment, der ausgehorcht und analytisch durchdrungen wird, um
beherrschbare Materialgrundlage und zugleich erlebbares Motto eines
Kunstwerkes zu sein, dem „destruktiven Schritt muss ein konstruktiver
folgen, sollen die Klänge nicht ins Unverbindliche, ins Vormusikalische
zurücksinken“.
Das, so Haffter, was mit Steen-Andersens Piano Concerto exemplarisch als
„Problembewusstsein“ verarbeitet wird, zeigt sich insgesamt im
kompositorischen Ausloten von der Gegenwärtigkeit von Klangkörpern, von
Materialgewinnung und Materialermüdung und letztlich auch auf der
übergeordneten Ebene eines durch Institutionen gesteuerten
Rezeptionsverhaltens und einer bestimmten Erwartung seitens des
Publikums.
Die Strategie, von einem Einzelwerk auszugehen, geht auf, da es
Haffter gelingt, die unterschiedlichen Betrachtungsebenen klug und
nachvollziehbar auf Grundsätzliches zu erweitern. Von da aus wendet er
sich allgemeinen und unterschiedlichen Bedingungen zeitgenössischer
Musik zu und führt dies zunächst anhand der Frage aus, wie weit die
Wurzeln dessen zurückliegen, auf welche die kompositorische Gegenwart
mit all ihren Facetten zugreift. „Sprachverlust“ im Sinne nicht mehr
vorhandene Idiome steht dabei wie eine Art Motto über vielen der darin
formulierten Gedanken und Verweise. Im folgenden Diskurs um die Krise
des Werks zeigt sich erneut, dass Haffter nicht aus einer subjektiven
und, wie man es in manch anderer Schrift zur Thematik vorfindet,
idiosynkratischen Perspektive schreibt, sondern mit klarer Haltung den
Überblick über die oft auseinandertriftenden ästhetischen Positionen
gegenwärtiger Musikproduktion behält, gleiches tritt in den folgenden
Kapiteln „Das Werk als Fragment“ und „Modelle“ ebenfalls deutlich
hervor.
Wie sehr Haffters Buch als Grundlage weiterer Diskurse um und für
zeitgenössische Musik dienen kann, wird mit jeder Zeile deutlicher. Er
liefert keine Rezepte, sondern stellt Zusammenhänge aus einem sehr
großen und umfassenden Repertoire her. Haffter schreibt am Ende: „Die
vorliegende Arbeit hat sich weitgehend in einer höheren
Abstraktionsebene bewegt, indem sie Grundbegriffe der Musikproduktion
hinterfragte. Auch diese Begriffe müssen so verwendet werden, dass sie
sich auf den ästhetischen Schein beziehen. Dieser Schein besteht aber
gerade darin, dass etwas sich als etwas zu verstehen gibt, was es nicht
ist.“
Christoph Haffters „Musikalischer Materialismus – eine Philosophie der zeitgenössischen Musik“ ist keine „leichte“, sondern vielmehr eine sehr nähr- und lehrreiche Kost und damit unbedingt empfehlenswert. Besonders bemerkenswert ist, mit wie viel Sachkenntnis Haffter ganz verschiedene historische und gegenwärtige Sichtweisen zusammenführt und Phänomene, die (noch) keinen weitreichenden Kontext aufweisen, ebenso gekonnt positioniert.