Im musikwissenschaftlichen Steckfeld hat jede Epoche, jede Gattung, jede Kategorie ihr definiertes Loch. Vermischungen, wie sie in der Realität vorkommen, sind nicht vorgesehen. Dabei gibt es auf den ineinander übergehenden Feldern Jazz und Klassik künstlerische Persönlichkeiten, die Erstaunliches leisten. Alban Nikolai Herbst hat die Pianistin und Komponistin Johanna Summer gehört und ist hingerissen.
Näher kamen sich „Klassik‟ und der Jazz noch nie, jedenfalls nicht meines Wissens. Daß ich das erst jetzt begreife, also spüre, hat etwas mit meinem, es läßt sich nicht einmal „gespaltenen‟ sagen, Verhältnis zu Robert Schumann und nichts mit der Kunst dieser Pianistin, Johanna Summers, zu tun. Ich habe zu Schumann im Wortsinn keines; seine Musik ist mir so fern, daß sich nicht einmal sagen läßt, sie lasse mich kalt. Ich höre sie und langweile mich, das ist alles. Was über Schumann gar nichts sagt, nur etwas über fehlende Kompatibilität. Das in diesem Fall „Problem‟ besteht darin, daß Summers sogar von Igor Levit gerühmtes Debut aus Soloklavier-Improvisationen zu oder besser über Kompositionen Robert Schumanns bestand (und selbstverständlich weiter besteht) – vor zwei Jahren unter dem Titel „Schumann Kaleidoskop‟ erschienen. Die CD kam hier an, ich hörte einmal hinein, dann, diszipliniert, sie noch einmal ganz und schließlich auch ein drittes Mal. Ohne daß sich etwas tat. Genau wie bei Schumann selbst. „Nett‟, dachte ich und schwieg.
Da ich sie nun auf ACTs
30-Jahre-Jubiläum in der Berliner Philharmonie aber live hörte und auch,
aber das ist wurscht, s a h und heute mittag (30.11.) ein zu den
Tonfiles ihrer neuen Aufnahme führender Link bei mir einging, versuchte
ich es doch noch einmal. Seither höre ich nichts anderes, nur diese
Aufnahme. Und zwar dauernd rauf und runter und vor allem, was bei
Tonfiles leicht ist, in verschiedenen, von mir selbst zusammengestellten
Folgen. Denn bereits der erste, Bach gewidmete Track (nach BWV 796) machte mich sprachlos. Ich hörte
sogar zu arbeiten auf, also zu schreiben. Denn wenn ich höre, arbeite
ich auch, nur eben anders. – Göttin, welch eine Meditation!
Sie überschattete erst einmal alles andere, so daß ich den Bach je
zwischen die weiteren Stücke kopierte, was bedeutete, daß selbst Ligetis
gewaltige, von Summer ragtimehaft rasende dargebrachten
Klavierausbrüche (auf Grundlage seiner achten Ricercata) oder später
Skrjabins wühlende fast-Cluster (nach seinem sechsten Prélude) wieder in
die schwebende Meditation zurückführen, in der dann jeweils die nun
„Vorstücke‟ – Skrjabin, Ligeti, Tschaikowski usw. – nachklingen können,
als wären sie endlich befreit. Es ist dies so, weil Bachs Melodik fast
nur aus dem besteht, was Adorno „Arbeit am Material‟ genannt hat – da
ist nichts von außen Draufgedrücktes, will sagen: keine Ambition
jenseits des Werks, sondern alles, alles ist immanent – und jedes
seiner, Bachs, Kompositionen uns jede andere Musik genau unter dieser
Perspektive verstehen lassen. Da zeigt es sich, läßt es sich hören, was
wirklich etwas ist, da gibt’s keine Showgetöse, sondern alles ist
wahrhaftig, also wahr – oder ist es nicht. Tertium
hic non datur.
„Hic‟ ist es das, bei Johanna Summer. Mit, zugegebenermaßen, zwar ausschließlich Höhen, aber auch darüber weit hinaufragenden Gipfeln. Zu denen sowohl der Schubert (viertes Impromptu) gehört, dessen Engführung in den Jazz so nahgeführt wird, daß sich, kennten wir nicht das Original, gar nicht mehr sagen ließe, was ist er, was Summer, als auch besonders Beethoven (das Andante aus op. 28), den sie anfangs ähnlich meditativ wie Bach anlegt, doch unversehens freitonal werden läßt, als wäre schon op. 111 geschrieben gewesen, ja bis in ein rhythmisches Zitat der im zweiten Satz, „Arietta‟, ersten Rumba der Welt. Das ist nicht nur berückend, sondern für einen noch so distanziert-kritischen Kenner ein Rausch. Aber nicht nur deshalb halte ich diese CD für eine, würden wir bei Literatur schreiben, Pflichtlektüre (denn wir besessenen Hörer lesen mit den Ohren).
Und wieder wechselt bei mir das vorige Stück in den Bach, und wieder verstehe ich ein Stückchen mehr. Bitte verstehen Sie „verstehen‟ als eine geradezu körperliche Empfindung, so wie wir ja wirklich erschauern, wenn uns eine Musik tatsächlich erfaßt – was, sein wir ehrlich, wenn wir ein geschultes und zudem gebildetes Gehör haben, mit den Jahren immer seltener geschieht und wenn, dann meist bei Musiken, die den Vorgang immer schon ausgelöst hatten und es beibehielten, selbst, hatten wir unterdessen hundert weitere Stücke gehört. Auch solche, die uns gefielen. Gefielen aber eben nur. Denen wir dennoch alles Gute wünschten, und mit Recht. Hier aber, für „Resonanzen‟, ist nichts zu wünschen. Hier ist alles, auf gespenstische Weise, schon da, und wir, wir selbst, spielen keine Rolle. Abgesehen von dem klitzekleinen Umstand, daß wir in Demut glücklich sind.