Es gibt Musik, die unser Gedächtnis okkupiert, pausenlos wiederholt werden will, dabei und immer aufs Neue ihre Schönheit offenbart und doch ihre Geheimnisse bewahrt. Es ist schwer, davon wieder loszukommen. Gäbe es in Deutschland ein Suchtmittelgesetz, würden solche Vorgänge observiert werden. Alban Nikolai Herbst ist gleich zwei solcher musikalischen Substanzen verfallen. Und er beschreibt, warum.
Wie lange habe ich auf endlich wieder eine Produktion von ACT gewartet, die alles andre übern Haufen wirft oder, um es noch einmal* mit Nietzsche zu sagen: „Was ist an einem Buche gelegen, das uns nicht einmal über alle Bücher hinweg trägt?“ – Für die Musik gelte dieses nicht? O doch, und wie, und wie! Und dann sind’s plötzlich sogar z w e i, in grad mal zwei Wochen Abstand erschienen, und beide sind Duette, Adam Baldychs & Leszek Możdżers Passacaglia sowie das nur ganz zu Anfang etwas sperrige Duo des unterdessen achtzigjährigen Pianisten Joachim Kühn und des mit siebenundvierzig nur etwas mehr als halb so alten Michael Wollny. Deren CD, Duo, höre ich seit gestern unentwegt, finde überhaupt nicht mehr hinaus und will es auch gar nicht, will das auf keinen Fall, sondern hörend immer weiter- und weiterfantasieren, mich tragen, hochwerfen und wieder fallen lassen – es ist ein solches Glück! Sechs Stücke sind es nur, aber sie haben’s in sich. Fast möchte ich mitsingen, auch wenn es nicht die Spur von Wohlklangskitsch in ihnen gibt. Ja, gerade deshalb nicht. Wie hier mit Dissonanzen umgegangen wird – mehr als Wollny ist Kühn im Freejazz tief zuhause –, ist einfach nur berauschend, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil zugleich die kompositorischen Strukturen weit, sehr weit über ein „nur“ improvisiertes, improvisierendes Maß hinausgehen; wir erkennen geradezu „klassische“ Variationen, also nach Sonatenart mit Exposition, Durchführung und Reprise, indessen bisweilen zur Coda verschmolzen, zu mehreren scheinbaren Codas, und alles das in im Schnitt sechsminütigen Stücken, die aber eher Sätze einer durchgehenden Komposition und jeweils im Charakter zwar verschieden, in der Tonaura aber wie eines sind.
Ist es der Altersunterschied der beiden Musiker, der Duo zugleich wie eine melancholische, in ganz seltenen Fällen auch – doch dankbar – trauernde Rückschau klingen, geradezu aber zugleich wie ein Aufbruch wirken läßt, der unsere Befreiung feiert? Die musikalischen Dogmen haben ausgedient, wohl wahr, wir dürfen musizieren, wie wir nur wollen, das hat uns die Postmoderne gebracht; doch aus den Dogmen ward gelernt: Was essentiell in ihnen war, ist nicht länger mehr abstrakt, sondern organisch geworden. Wollny und Kühn führen es meisterhaft begeistert vor, bemeisterthaft, und ihre Temperamente sind so ähnlich, als säße hinter den Lautsprechern ein einziger Pianist, doch einer mit vier Händen. Wie sie aufeinander hören und ihre Alter geradezu amalgamieren, es ist ungeheuer, ist ungeheuer schön, wir spielen beinah selber mit. Kühns Traurigkeit über seines älteren Bruders Rolf Hinweggang, er starb vor zwei Jahren, wird in Wollny zum Wiederfinden, Bleiben; nichts ist geschehen, als daß der Stab ward weitergereicht. Dazu paßt gut, daß „My Brother Rolf“ der geradezu Prototyp einer Ballade ist. Und wiederum schreibt sich Kühn in Wollny ein, der geöffnet empfängt und dafür seinerseits gibt – wie die antiken Alten es begriffen. Selten habe ich eine solche Einheit gehört und eben auch der Zeiten, nicht nur personal.
Es lohnt sich übrigens, nachdem Sie die CD einmal in ihrer „eigentlichen“, wohlkalkuliert durchdachten Reihenfolge angehört haben, in der sie gebrannt, bzw. die LP gepreßt worden ist, den Tracks in mehrmals anderer Folge zu lauschen. Probieren Sie es aus. Sie werden merken, der Verschmelzungscharakter erhöht sich enorm – was einen Teil der dann immer noch zunehmenden Suchtwirkung ausmacht, einer Sucht ohne Kater, statt dessen voll dauernd neuer Versprechen, die auch immer eingelöst werden. Hören Sie allein nur die Improvisation auf Ornette Colemans „Somewhere“ an – mit welch liebender Intelligenz sie gestaltet ist. (Die fünf anderen Kompositionen, besser: musikalischen Themen, stammen von Kühn und Wollny selbst). Haben Sie die Reihenfolgen noch mehrfach variiert, Sie können auch zufällig vorgehen, werden die unablässigen Glücksausstöße sogar von ganz verschiedenen Stellen ausgelöst: Was vorher noch überhört war, gewinnt an Strahlkraft, die in der nächsten Reihenfolge eine ganz andere Stelle bekommt. Manchmal ist es nur die Wiederholung eines rhythmisierten Anschlags, der wie ein Riff daherkommt, allerdings als geradezu klassisches Ostinato – etwas, auf das jedenfalls ich stets unmittelbar anspringe, sofern es kein durchgezogener Beat ist. Von so etwas sind Kühn wie Wollny autonom weit entfernt; wir erkennen’s nur im Hinlauschen, Hinlauschenwollen. Große Kunst halt, große Kunst.
Die zweite CD, die mich vom Hocker riß, ist, wie oben schon
geschrieben, Baldychs und Możdżers Passacaglia. Eigentlich ist es die
erste, denn mit ihr „bemusterte“ ACT mich bereits im vergangenen November.
Schon beim ersten Anhören hatte ich sofort über sie schreiben wollen,
mußte es aber zurückstellen, als ich sah, daß sie erst im Januar
herauskommen würde. Wie oft ich sie seither schon angehört habe, kann
ich gar nicht sagen – fünfzig Mal vielleicht? Also ja, mindestens. Und
das, obwohl ich mit Adam Bałdychs Geigenspiel zuvor so meine
Schwierigkeiten hatte – was schlichtweg daran liegt, daß in meinen Ohren
sein Ton immer etwas Klezmerhaftes hat, ein Genre, das mir einfach
nicht liegt. Anders freilich Możdżer, von dem ich mir schon lange eine
neue Aufnahme wünschte. Immer wieder habe ich bei ACT nachgefragt, immer wieder hieß es „wird
bald kommen“ und kam dann doch nicht. Nun aber ist sie da.
Zum ersten Mal habe ich Możdżer im Mai 2017 gehört, live im Konzerthaus
Berlin, und war dem Stil wie der Erscheinung dieses wie ungebändigten,
zugleich formvollendeten polnischen Jazzpianisten vom ersten Lauf an
verfallen; bis dahin war mir das nur mit Jarrett so geschehen und hat
lebenslang angehalten bei dem; ich schätze auch den späten, nicht mehr
süffigen, schwierigen Keith Jarrett sehr, über den sich allewelt so
aufregen wollte, namentlich Clemens J. Setz in seiner miesen Besprechung
in Die Zeit vom Juli 2016. Nein, eigentlich bin ich nicht nachtragend,
hier aber Elefant.
Egal.
Bałdych also und Możdżer. Wiewohl in Komplexität und der Virtuosität
sowieso Kühn und Wollny nicht nachstehend, dürfte
Passacaglia die größere Schnittmenge möglicher
Hörerinnen und Hörer, also eine deutlich weitere Zielgruppe haben; diese
Musik braucht keinerlei ästhetische Vorbildung, erschließt sich
unmittelbar und reißt so auch mit, sei es durch den – deutlich
osteuropäisch gefärbten – melancholischen Ton, der mit am stärksten
ausgerechnet in einer berührenden Improvisation über Hildegard von
Bingens „O ignee spiritus“ zum Ausdruck kommt, sei’s durch ihre vielfach
auf volksliedhafte, jedenfalls „einfache“ Grundmelodien bezogene
Klangaura. Man klangverliebt sich dauernd neu, etwa in – läuft gerade –
Bałdychs „January“. – Was ist das? Eine Liebeserinnerung des Verlustes,
des Aufbruchs, der Erfüllung? Selbst das elaboriertere „La deploration
sur la mort“ des Renaissance-Komponisten Josquin Desprez fügt sich
völlig organisch darein, ja gerade dieses Stück – neben von Bingens
Komposition und Możdżers „Le Pearl“ meine Lieblingsimprovisationen auf
der CD. Überhaupt ist Zeitlosigkeit eines der Kennzeichen dieser Art
Jazz, wobei insgesamt auffällig ist, wie gegenwärtig die Alte Musik in
der Postmoderne und Nachpostmoderne geworden, indes die „Klassik“ fast
ins Vergangene gerutscht ist. Wie passend also, daß selbst mein jetzt
vierundzwanzigjähriger Rappersohn (→ Auxcapri) von
Passacaglia so wenig genugkriegen konnte, daß er
mich um eine Kopie bat. Um es kurz zu sagen, ist diese Produktion für
jede und jeden etwas, die und der Musik auch abseits des industriellen
Mainstreams liebt. Wenn zwar Klezmer längst zu einer Art osteuropäischer
Dixiejazz verkommen ist, hier bekommt das Genre neue, erneuerte Valenz –
für mich wahrscheinlich das überraschendste Moment der CD. Ich sage es
mal so: Wenn wir etwas überhaupt nicht mögen, es aber einem Gericht in
feinsten Spuren beigemengt ist, kann es uns kulinarische Orgasmen
bereiten, auf die wir nimmer mehr verzichten mögen. Um zu wissen, was
ich meine, brauchen Sie sich nur das zweite Stück, „Jadzia“, anzuhören,
selbst in dieser bei Youtube klanglich arg komprimierten
Studioprobe:
https:// www.youtube.com/watch?v=fTibazGooxU
Auf der CD, geschweige auf Vinyl, bekommen Sie auch die
erforderte Dynamik, weit mehr sogar als das. Sie werden träumen,
träumen, träumen und die Kenner – schweigen. Und Hand aufs Herz, was
sind schon zweimal 19.99 € für den Himmel?
*https://faustkultur.de/literatur-buchkritik/
mit-vollen-haenden-das-meer-ausgeschoepft/
https://www.actmusic.com/
;
https://
www.actmusic.com/duo/ACT-9633-2
https://
www.actmusic.com/passacaglia/ACT-9057-2
https://blog.zeit.de/freitext/2016/07/12/keith-
jarrett-konzert-clemens-setz/
Hinweis auf auxcapri:
https://open.spotify.com/intl-de/
artist/1SKW9WcPv5u4ENVvJU8Xce