Mit Wut, Entsetzen, Hilflosigkeit reagieren nicht nur alle diejenigen, die auf eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern gehofft hatten: Der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 hat alles zunichte gemacht. Fern vom Geschehen notiert lakonisch der Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Kulturvermittler Eldad Stobezki, was ihm an diesem Tag durchs Gemüt fährt.
7.
Oktober 2023
Die erschütternden Bilder des Krieges in Israel, der am 7. Oktober 2023
begann, kann ich nur als Hölle, als Shoa, bezeichnen. Auf Hebräisch hat
das Massaker den Namen „Tofet“ bekommen. Tofet war der Platz bei
Jerusalem, auf dem im Altertum heidnische Kinderopfer gebracht
wurden.
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Einige Tage nach dem Massaker im Kibbuz Nir Oz kamen Volontäre, um den
Kuhstall wieder zu aktivieren. Auf dem Video sieht man, wie sie in der
Nacht nach den Kühen Ausschau halten. Eine Kuh hatte gekalbt und das
Kalb sieht gesund und wohlauf aus. Das Leben wird weitergehen. Auch nach
der Schoa ging das Leben weiter.
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Über den Verlauf der Bodenoffensive und die weltweite Hasswelle gegen
Juden informiere ich mich ständig. Bitte hört im Netz das Lied
„Deduschka“ des jüdischen Rappers Ben Salomo, das er zum Jahrestag des
Anschlags auf die Synagoge in Halle 2020 schrieb. Das Lied beinhaltet
die ganze Tragik des jüdischen Lebens in Deutschland.
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Keine Mauer kann 100 Prozent dicht sein. Das ist eine Illusion. Wer
Austern knackt weiß ganz genau, an welcher Stelle er das Austernmesser
ansetzen muss.
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Eine Freundin erzählte mir, dass sie im Netz nachlesen wollte, wie
gefährlich Granatsplitter sind. Sie fand nur Rezepte für eine Süßigkeit,
die man seit Loriot auch als Kosakenzipfel kennt. Die Kölner nennen sie
Domspitzen.
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Im Kibbutz Dorot, der nur 7,4 km von der Grenze zum Gazastreifen
entfernt ist, lebt ein Teil meiner Familie. Die Gründer des Kibbutzes
waren deutsche Juden. Als Kind verbrachte ich dort im Sommer einige
Wochen. Fati, der Neffe meiner Mutter, kümmerte sich tagsüber um den
Kuhstall. Er war stolz auf die modernen Melkmaschinen und „seine“ Kühe.
Nachts patrouillierte er am Zaun des Kibbutzes. Fast jede Nacht wurden
Terroristen aus dem Gazastreifen erschossen. Das gehörte zur
Tagesordnung, und man sprach kaum darüber. In den Nachrichten wurde der
Kibbutz Dorot nicht erwähnt, aber meine Schwester sprach mit einer
Verwandten dort, die ihr berichtete, dass die Bewohner des Kibbutzes
evakuiert wurden. Es sind nur noch sechzig Menschen da. Jetzt kümmern
sich die thailändischen Gastarbeiter um den Kuhstall. Fati hätte seine
Kühe nie verlassen.
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Als Kinder konnten wir von zuhause über die Erdnussfelder nördlich des
Yarkon Flusses zum Strand laufen. Wir pflückten die frischen Erdnüsse
und aßen sie mit Genuss. Mein Vater sagte damals voraus, dass hier in
einigen Jahren hohe Wohnhäuser stehen werden. Heute ist dieses Gebiet
bebaut. Von der Landwirtschaft und der Natur gibt es nichts mehr.
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Bei einer anderen Gelegenheit sagte mein Vater, dass die Araber uns nie
akzeptieren werden. Er hatte recht. Die Israelis haben ihnen aber auch
nicht viele Gelegenheiten dazu gegeben.
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Im Juni 1933 feierte mein Vater seine Bar-Mitzwa in der Bad Nauheimer
Synagoge. Die neue Synagoge im Bauhausstil wurde 1929 eingeweiht. Schon
im September 1933 war die Familie dann in Tel Aviv. Mein Vater, der noch
wie ein Tourist aussah, ging in Jaffa spazieren. Ein arabischer Junge
fragte ihn, woher er käme. „Aus Deutschland“, sagte mein Vater. „Wie
schön“, sagte der arabische Junge. „Wann fährst du zurück?“ „Ich fahre
nicht zurück.“ Der Junge bespuckte meinen Vater und ging weiter.
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Meine Eltern besuchten mich 1980 in Frankfurt. Seit 1933 waren sie nicht
mehr in Deutschland gewesen. Wir fuhren nach Bad Nauheim. Als wir vor
der Synagoge standen, sagte mein Vater: „Die Synagoge ist immer noch so
hässlich wie damals.“
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Während der Frankfurter Buchmesse stellte die israelische
Schriftstellerin Lizzie Doron in der Evangelischen Akademie ihren neuen
Roman vor „Nur nicht zu den Löwen“. Eine alte Frau muss ihre Wohnung
verlassen. Das alte Haus soll abgerissen und ein modernes gebaut werden.
Eine bessere Metapher für die Lage Israels finde ich zurzeit nicht.
Lizzie ist die Tochter einer Auschwitz-Überlebenden, sie hat viele
palästinensische Freunde und ihr Bestreben für Verständigung und Frieden
ist beachtlich. So wie alle anderen Israelis, ist sie immer davon
ausgegangen, dass die Armee sie beschützen kann. Kein zweiter Holocaust.
„Nie wieder …..“ war selbstverständlich. Lizzie Doron, die
ihr Leben zwischen Tel Aviv und Berlin teilt, sagt, dass sie sich auf
ihre Heimat nicht mehr verlassen kann. Sollte nach der nächsten Wahl
wieder eine rechts-rechts Regierung gewählt werden, wird sie
wahrscheinlich ganz nach Berlin ziehen.
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Ich rief meinen Bruder an. Er erzählte, wie die Angst vor den Raketen
der Hamas und Hisbollah die Menschen zermürben. Dann hörte ich im
Hintergrund eine Sirene und er sagte: „Ich muss in den Schutzraum.“ Wir
legten auf.